Fischbrötchen, Scham und Schaulust

Orhan Pamuks erhellende Betrachtungen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es klingt einfach und ist doch so lästig unbequem: "Neue Blicke durch die alten Löcher". Was Georg Christoph Lichtenberg vor gut zweihundert Jahren notierte, könnte als Motto über Orhan Pamuks neuem Buch "Der Blick aus meinem Fenster" stehen, denn der Essay-Band kritisiert einerseits Sehgewohnheiten, die blind machen, und handelt andererseits von der produktiv irritierenden Augenlust, die sich einstellt, wenn man eine andere Sichtweise wagt. Pamuk kennt als standorttreuer Istanbuler die vielen Menschen in den ärmeren Vierteln seiner Heimatstadt, die mangels Arbeit tagaus, tagein im Fenster lehnen, nur scheinbar schauen und dabei allein das erblicken, was in ihr Weltbild passt. Und er weiß, wie verbreitet diese Form von Weltanschauung ist, gerade auch im Westen und nicht allein unter Armen.

Ihr setzt er seine ganz eigene Sicht in 31 Texten entgegen, die er mit allem Recht "Betrachtungen" nennt. Sie ermöglichen Einsichten aus verschiedenen Perspektiven: In Pamuks Leben, in seinen Literaturgeschmack, in seine Bibliothek, in sein Istanbul, in sein Politikverständnis und tief in die türkische Volksseele. Weil für ihn die Türkei nicht Kleinasien, sondern ein Teil von Großeuropa ist, gibt es dazu neue Blicke auf die westliche Psyche, besonders die Europas. Deren Selbstzufriedenheit wird draußen vor der Tür als immer weniger gerechtfertigter, oft schroffer Stolz wahrgenommen.

Obwohl die Themen wie die Texte seines Buches heterogen sind, so wirken sie doch organisch zusammen, weil Pamuks Persönlichkeit sie verbindet. Die Persönlichkeit eines Schriftstellers ist in diesem Falle nicht zu verwechseln mit bloßer Egozentrik oder gar Eitelkeit, vielmehr gilt, was Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede folgendermaßen formulierte: "Als älteste Form der Privatinitiative fördert die Kunst in jedem Menschen, wissentlich oder unwissentlich, das Bewusstsein seiner Einzigartigkeit, seiner Individualität und Absonderung, und verwandelt ihn so von einem sozialen Lebewesen in ein autonomes Ich."

Pamuks Autonomie provoziert in der Türkei. So hält er sich weder an Sprachregelungen die Kurden und den Völkermord an den Armeniern betreffend, noch an andere politische Übereinkünfte. Er lässt in seinen Romanen Figuren auftreten und Meinungen vertreten, die als offiziell inakzeptabel gelten. Nicht wenigen gilt er schon deshalb, wiewohl unverkennbar aufgeklärter Patriotismus sein Schreiben grundiert, als Nestbeschmutzer und als Verräter. Von den bizarren und unangenehmen Folgen für den Autor selbst handeln die Texte "Mein Prozeß" und "Wie ich mich von einigen Büchern befreite".

Die "genaueste Personalität", wie Johann Georg Hamann es nennt, bewahrt Pamuk dabei vor ideologischer Verblendung und vor wohlfeilen Pauschalurteilen. Seine selbstbewusst gelebte Individualität lässt ihn Kunst und Kritik überzeugend vereinen, wobei häufig Komisches und Rührendes in sie hineinspielt, wie in dem Beitrag "Essen auf den Straßen Istanbuls": Jedes öffentlich verzehrte Fischbrötchen, jedes gefüllte Fladenbrot, jeder Fleischklops, der ja aus Esel oder Pferd gemacht sein könnte, war vor vierzig Jahren eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber der traditionellen Familienwelt, ein erregender Schritt aus der sauberen Sicherheit des Heims in die möglicherweise schmutzige Freiheit der Öffentlichkeit; und doch vergingen nie die Schuldgefühle den mahnenden Müttern gegenüber! Pamuk schildert, wie ihn 1964 schlimme Gewissensbisse an der Imbissbude plagen, als er mit einem Hotdog in der Hand von seinem älteren Bruder erwischt wurde.

Indem Pamuk das Persönliche, das Politische und die Literatur verbindet, zieht er uns unwiderstehlich hinüber auf seine Seite. Wir sehen mit den Augen dieses faszinierenden Fremdenführers und werden uns so selbst fremd. Die Scham - ein Zentralbegriff Pamuks - vieler Türken angesichts ihrer scheinbaren oder tatsächlichen Rückständigkeit, ihrer willfährigen Anpassung und ihres Traditionsverrats, die doch nicht zu mehr Respekt oder gar der Aufnahme in die EU führen, bringt er dem Leser so nachvollziehbar nahe, dass neben der Neugier auch auf unserer Seite Scham wächst.

Nicht nur ein persönliches, auch ein erzählerisches Element prägt alle Texte, selbst die vornehmlich argumentativen, denn für Pamuk ist "Die Literatur die Heimat" und "Das Leben eine gute Ausrede für Bücher". Was nach Eskapismus klingt, bedeutet eine besonders individuelle und genaue Erkenntnis der Welt: "Wörter und Literatur sind nämlich wie Ameisen oder Wasser: Sie dringen überallhin, auch noch in die kleinsten Ritzen und Schlupflöcher. Und was wir über das Leben und die Welt am dringlichsten wissen wollen, zeigt sich gerade in diesen Schlupflöchern - deshalb ist es am ehesten die Literatur, die das sieht und davon künden kann."

Die Durchdringung von Leben und Literatur in diesen Texten irritiert und fasziniert zugleich, ob man eine Liebeserklärung an den Vater liest, von den Erfahrungen bei den ersten Lesungen in Deutschland, über den Schicksalsschlag des großen Erdbebens oder die herzenskluge Erzählung am Ende "Aus dem Fenster schauen". Beinahe beschämt den abgeklärten Leser Pamuks emphatischer Literaturbegriff, der besonders deutlich in den verehrungsvoll-kenntnisreichen Essays über die Kollegen Gide, Highsmith, Nabokov, Flaubert, Stendhal oder Dostojewski hervortritt.

Obwohl viele Betrachtungen für spezielle Anlässe geschrieben wurden, wie die Friedenspreis-Rede oder sein bedenkenswerter Zwischenruf nach den Anschlägen vom 11. September 2001, haben sie ihre Eindringlichkeit nicht verloren. Im Verein wirken sie vielmehr neu, intensiv, persönlich; fast wie die Einladung an den Leser, neben Pamuk am Fenster Platz zu nehmen und mit ihm neu schauen zu lernen.


Titelbild

Orhan Pamuk: Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen.
Übersetzt aus dem Türkischen von Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann u.a.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
259 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446207392

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch