Der erhabene Entwurf

Elmar Treptow entwickelt eine ästhetische Theorie der Natur

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann nicht gerade behaupten, dass die Naturphilosophie der Herren Kant, Hegel, Schelling, Nietzsche oder Adorno folgenlos geblieben wäre. Aber sie haben die Natur idealisiert (im Konzept der moralischen Natur des Menschen), transzendiert (als "Verleiblichung" der göttlichen Natur), dämonisiert (als das "von Hause aus" Böse), instrumentalisiert (gegen "zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung") und historisch deformiert (Natur als "Alibi").

Das Erhabene der Natur - eine Fügung, die der Münchener Philosoph Elmar Treptow von Kant gewinnt - ist folglich nie angemessen systemisch im Sinne einer ökologischen Kommunikation erörtert worden. Aber ist eine solche, ist eine "ästhetische Theorie der erhabenen Natur, welche die Natur nicht zu transzendieren trachtet", denn ausgerechnet von einem marxistisch geschulten Denker zu erwarten? Vielleicht gerade von ihm, wenn es ihm vorschwebt und gelingt, ihr eine "praktische Perspektive" einzuschreiben, die sich aus dem "anthropologischen und historischen Interesse an einer Gesellschaft" speist, die sich - in utopischer Perspektive? - "der sachzwanghaften Nutzung" der Natur durch Ökonomie widersetzt.

Doch der Reihe nach. Eingangs hat man bei der Prosa dieses mächtigen Bandes bisweilen die vertraute Anmutung eines Aristoteles-Textes: Das erste Kapitel ("Die Selbstorganisation der erhabenen Natur in grenzüberschreitenden Kreislaufsystemen, die den Maßen des Menschen sowohl angemessen als auch unangemessen sind und Formen von Lust und Unlust erregen") legt das terminologische und philosophiehistorische Fundament; es umreißt den Gegenstandsbereich und erörtert die zentralen Oppositionspaare: Lust und Unlust, Staunen und Schaudern, angemessen und unangemessen, anziehend und abstoßend, Einwirkungen empfangend und Wirkungen ausübend. Neben den Oppositionspaaren werden in typisch aristotelischer Manier Ergänzungspaare (oder auch asymmetrische Oppositionen) gebildet: schön und erhaben, praktisch und nützlich, symmetrisch und regelmäßig, Sein und Existenz und so weiter.

Doch zeigen Begriffe wie "Selbstorganisation" zugleich, dass es sich - bei allem Bezug auf die Klassiker - um eine sehr heutige und heutigen Problemen angemessene philosophische Daseinserörterung handeln muss. Zentral ist für Treptow der Begriff der Grenzüberschreitung, der in vielfältigster Weise definiert und illustriert wird. Treptow unterscheidet die Grenzüberschreitung, die als Normverstoß geahndet wird und zur Restitution der alten Ordnung zwingt, von jener Übertretung, die "revolutionär" zur Stiftung einer neuen Ordnung hinführt. Primär und zentral sind hier etwa die "ökonomischen Grenzüberschreitungen" zu nennen, die militärisch flankiert sind und im Zeitalter des Imperialismus zur Neudefinition "nationaler" Interessen und Ziele geführt haben oder noch führen.

Doch worin liegt der Sinn, eine Spannung herzustellen zwischen vertrauten sprachlichen Formen, einer philosophischen Systematik des Denkens in bekannten Topoi der Philosophiegeschichte und Fragestellungen einer modernen Naturästhetik? Ganz einfach: Es soll sich wohl zeigen, dass eine - auch in der Orientierung und Perspektivierung auf eine politische Philosophie hin - "ökologische Ästhetik" formulierbar ist, die von tradierten Argumentationsformen einer ,ersten Philosophie' profitiert, auch wenn sie sich dann - in "ästhetischer Aneignung" der Natur - begrifflich ins Heute deklinieren muss: an sich, für sich, an und für sich, an sich und für uns. Treptows Naturphilosophie ist somit (beziehungsweise dann auch) zu einem Gutteil Naturgeschichte im Übergang zu einer evolutionären Erkenntnistheorie. Dies bringt es mit sich, dass von ihm nicht nur Physiker und Metaphysiker alter Schule befragt werden, nicht nur Ästhetiker und Phänomenologen zwischen Husserl und Heidegger, Baumgarten und Hegel (während Rosenkranz fehlt!), sondern auch Repräsentanten einer politischen Ökonomie, einer Systemtheorie (am Rande treten Luhmann und Maturana auf), einer kritischen Theorie oder Verhaltensökologie und so weiter - mögen auch die philosophischen Hauptzeugen, darunter Aristoteles, Hegel, Kant, Marx und Engels, Nietzsche, vielleicht noch Rousseau, dem Kanon entstammen.

Jenseits des philosophischen Kanons tun sich in diesem Buch erstaunlich viele literarische Quellen auf, wenngleich sie immer auf die Philosophie als Urquell des Wissens und Denkens zurückführen beziehungsweise zurückgeführt werden. So könnte man als Leser von Arno Schmidt auf die Idee kommen, dass zwar die Natura naturans im Sinne von Mikro- und Makrokosmos "erhaben" sei (man denke nur an die stetige Feier des Mondes bei Schmidt), aber die menschliche Natur, der Mesokosmos, eher zum Lächerlichen tendiere. Aber auch dafür hat Treptow einen Blick, entwickelt an den Klassikern - ein Gespür etwa für das unfreiwillig Komische eines Hegel: "Zunächst überschreitet der Mensch seine individuelle leibliche Grenze dadurch, dass er neues Leben zeugt. Demgemäß haben Menschen das Zeugungsorgan immer wieder als erhaben erlebt. Es ist zugleich auch das Organ des Urinierens und dient als solches unmittelbar nur der Erhaltung des individuellen Organismus. So gesehen, ist es adäquat, wenn Hegel von einer 'Verknüpfung des Hohen und Niedrigen' spricht, welche 'die Natur in der Verknüpfung des Organs seiner höchsten Vollendung, des Organs der Zeugung, und des Organs des Pissens naiv ausdrückt.'"

Auf der Zwillingsformel der "erhabenen Natur" scheint kein Segen zu liegen, seit der Mensch, das "gesellschaftliche Individuum", die eigene "Unvollkommenheit" systematisch zu rechtfertigen vermag und mit dieser Systematizität vieles entschuldigt, was unentschuldbar bleibt - selbst wenn man sich auf die Fehlbarkeit der "Sondernatur" Mensch berufen kann. Dies wird besonders dann deutlich, wenn der Verfasser auf aktuelle Fehlentwicklungen in der Weltpolitik zu sprechen kommt, etwa auf die nationalen Zielsetzungen Amerikas (und sein Sicherheitsbedürfnis), die mittlerweile weltumspannendes Format angenommen haben: sogar die Berliner Republik kennt bereits eine "Doktrin der globalen Intervention". Der Imageschaden freilich, der durch die an Friedensmissionen beteiligten Truppenkontingente Westeuropas und Nordamerikas weltweit entstanden ist, kündet nicht unbedingt vom "Ehrfurcht gebietenden Schrecken, den eine erhabene Macht hervorruft" (Edmund Burke), auch nicht von den positiven Werten, die im Geiste abendländisch-zivilisatorischer Verfasstheit Grund- und Menschenrechte deklarieren und zu schützen vorgeben.

Hier kann Elmar Treptow in seiner Argumentation forciert einseitig und gekonnt polemisch werden. Verkörpert George W. Bush noch die "erhabene" Wertstiftungstradition Amerikas, oder entspricht er nicht vielmehr längst einer lächerlichen Karikatur eines fundamentalistisch-degenerierten Proselytenmachers und damit der hybriden "Horrorlust" einer menschlich-allzumenschlichen "Attraktion von Herrschaft, Gewalt, Grausamkeit, Hässlichkeit und Krieg"?

An Beispielen ästhetisch-künstlerischer Provenienz zur Untermauerung der Thesen wird nicht gespart. Sie machen deutlich: Vom Fetischkult der Naturreligionen und der Selbststilisierung des Mannes als "erhabenes Geheimnis" (Simone de Beauvoir) ist es hoffentlich nur ein Schritt zur Rede vom und zur Kultivierung eines neuen, aufgeklärten Typus, dem eine "bewusste Einwirkung auf die Gegenstände der Natur und Gesellschaft" gelingt, ohne dabei zum Un- oder Übermenschen zu degenerieren. Dem muss man sich stellen, mit allem, was Kunst und Philosophie und Kunstphilosophie zu bieten haben - auch im Sinne einer umfassenden (ökologischen) Kommunikation. Denn nicht umsonst heißt Treptows Buch im Untertitel "Entwurf einer ökologischen Ästhetik".


Titelbild

Elmar Treptow: Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik.
Weidler Buchverlag, Berlin 2006.
435 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3896934635

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