Dead Teddy Walking

Clifford Chases herrlich schräge Story "Winkie" über ein Kuscheltier-Schicksal nach 9/11

Von Julia SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Szenerie zu Anfang des Romans könnte aus einem Hollywood-Actionfilm stammen: FBI-Agenten umstellen bei Nacht eine Hütte im Wald, ein Hubschrauber lässt seinen Suchscheinwerfer kreisen. Der Chief Inspector fordert den umzingelten Verdächtigen per Lautsprecher auf, sich zu ergeben. Zugriff! Der mutmaßliche Top-Terrorist kommt mit erhobenen Pfoten heraus: Es ist Winkie. Ein lebendiger Plüschbär.

Für das merkwürdige Erscheinungsbild des gefassten Schwerverbrechers finden sich viele Erklärungen: Ein genetischer Defekt, eine seltene Erkrankung, "die in anderen Teilen der Welt wie etwa Asien oder Nahost sehr verbreitet sein könnte". Oder eine Mutation, entstanden durch einen Chemieunfall oder die globale Erwärmung. Die Staatsanwaltschaft braucht den "Mad Bomber", einen psychopathischen Bombenleger, der die Vereinigten Staaten seit 17 Jahren in Atem hält. Und zu eben diesem wird der kleine Teddy nun systematisch gemacht. Die Liste der Anklagepunkte ist endlos, fünf Stunden dauert es, sie zu verlesen: Neben Hochverrat, versuchtem Mord in 124 Fällen und Verschwörung gegen die Regierung der Vereinigten Staaten wird Winkie auch des "Festhaltens an dem Irrglauben, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt sei und dass sich die Erde um sie bewege", sowie der "Verführung der Jugend von Athen" und ähnlich absurder Vergehen beschuldigt.

Während der langen Stunden in seiner Zelle erinnert sich Winkie an seine Vergangenheit als lebloses Kuscheltier und lässt so den Leser an seiner mystischen Metamorphose vom Spielzeug zum beseelten Bären teilhaben. Achtzig Jahre war er im Besitz derselben Familie und hat über mehrere Generationen hinweg den Kindern als treuer aber stummer Gefährte gedient - bis er eines Tages beschloss, ein eigenes Leben zu führen.

Clifford Chases Debüt-Roman ist erstaunlich: Indem einem knuddeligen Teddybären, dem Inbegriff kindlicher Unschuld, der Prozess gemacht wird, entlarvt er ganz ohne Zynismus und Bitterkeit die perfiden Machenschaften des politischen Systems der USA im Kampf gegen den Terrorismus. Die mit haarsträubenden Methoden geführte Gerichtsverhandlung ist nichts als eine Farce, in der alle Beteiligten außer dem Angeklagten der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Ebenso bemerkenswert ist Chases außergewöhnliche Narrationsstrategie: Vollkommen überzeugend erzählt er aus der Perspektive eines Plüschtiers. Die fantastische Bär-Werdung Winkies und die Charakterisierung des pelzigen Protagonisten vor und nach diesem einschneidenden Ereignis werden konsequent glaubwürdig und so einfühlsam geschildert, als kenne der Autor diesen Bären ganz genau - und tatsächlich, Clifford Chase, geboren 1958 in Connecticut, besitzt angeblich einen achtzig Jahre alten Teddy namens Winkie.

"Winkie" ist eine bizarre Satire auf das amerikanische Justizsystem in den Zeiten von Guantanamo und die hysterische Terrorismus-Paranoia seit dem 11. September 2001. Und selten wurde die Repressionspolitik der USA auf so amüsante und originelle Weise an den Pranger gestellt wie in Clifford Chases Roman.


Titelbild

Clifford Chase: Winkie. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay.
Berlin Verlag, Berlin 2006.
254 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3827006783

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