Unsre guten Freunde, die Wilden

Herbert Uerlings' oft erhellende Studie zu (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht immer sind sich Postcolonial Studies und dekonstruktive Gender Studies ganz grün. Herbert Uerlings betont in seiner erhellenden Studie hingegen ihre entscheidende Gemeinsamkeit, die er in beider Kritik an einem "Identitätsmodell" sieht, "das um so gewaltförmiger auf Ganzheit und Autonomie besteht, je abhängiger es von seinem konstitutiven Außen ist". Eine Kritik, die er nicht nur teilt, sondern zudem ins Zentrum seiner Studie über "(Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur" stellt. In ihr untersucht er literarische Orte, an denen eine - wie er mit Foucault sagt - ",Geschichte des anderen' geschrieben wird, das 'auszuschließen ist (um die innere Gefahr zu bannen), aber indem man es einschließt (um seine Andersartigkeit zu reduzieren)'".

In einem den Textuntersuchungen vorangestellten Abschnitt bietet der Autor zunächst einen Abriss des "kolonialen Diskurses", seiner Ziele sowie der Möglichkeiten seiner Analyse und legt die Rolle dar, die der Literatur hierbei zukommt. Dabei betont er, dass das "Überspringen der ästhetischen Dimension literarischer Texte" eine Gefahr für jede sich als Kulturwissenschaft begreifende Germanistik darstelle, und so auch für literaturwissenschaftliche Postkolonial- und Gender Studies. Daher bildet die "Untersuchung der Beziehungen zwischen kultureller und ästhetischer Alterität" den "Dreh- und Angelpunkt" seiner Arbeit.

Die einzelnen Textuntersuchungen sind voneinander separiert und fußen auf bereits publizierten Aufsätzen zu den jeweils untersuchten Werken. So ist zwar nicht gerade ein Patchwork entstanden, doch macht sich diese Entstehungsgeschichte auch in den für die Buchform überarbeiteten Fassungen nicht immer vorteilhaft bemerkbar.

Zu den untersuchten Texten zählt etwa Georg Forsters "Reise um die Welt", auf welcher der aufklärerische Weltreisende, wie er selbst formuliert, "unsre guten Freunde, die Wilden" besuchte und von der er mit besagter Reisebeschreibung ein Manuskript zur Veröffentlichung mitbrachte, bei dem es sich, wie Uerlings zeigt, "zweifelsohne" um den "wichtigste[n] Beitrag der zeitgenössischen Ethnographie zum Geschlechterdiskurs" handelt. Des weiteren widmet sich der Autor etwa Goethes "Iphigenie auf Tauris", dem er eine "differentielle Vielstimmigkeit" bescheinigt, und Christa Wolfs Stück "Medea. Stimmen", dessen "feministischer Universalismus" von Uerlings mit guten Gründen dafür gescholten wird, dass er "seine eigenen Dichotomien" produziert und "destruktive Anteile" auf das "ausgeschlossene Andere" projiziert.

Wolfs Werk hält der Autor Ingeborg Bachmanns Romanfragment "Der Fall Franza"- von Uerlings lieber nach dessen Erstveröffentlichung als "Das Buch Franza" bezeichnet - entgegen. Bachmanns Nachlass-Werk gilt der umfangreichste Teil der Arbeit, denn das Fragment bietet Uerlings "ein besonders markantes und aufschlussreiches jüngeres Beispiel für die Verbindung von Kolonialismus und Geschlechterverhältnissen". Seine Bedeutung liege insbesondere darin, dass Bachmann in dem Text Kolonialgeschichte und Geschlechtergeschichte "mit großer Eindringlichkeit und historisch weit ausgreifend [...] ineinander verschränkt". Ohne weiteres gelingt es dem Autor mit einer luziden, auf ebenso umfang- wie aufschlussreicher Recherchearbeit fußenden Interpretation des "Buches Franza", seine These zu belegen, Bachmanns "Analogie von Frauen und Kolonisierten" verfahre "wesentlich differenzierter" als in der Forschung bislang angenommen wurde. Hierzu stützt er sich etwa auf die "Hatschepsut-Passage" oder auf Bachmanns Verarbeitung der "Isis-und-Osiris-Mythe", die zwar einerseits die "zentrale Utopie" des Textes bilde, von Bachmann zugleich aber auch in ihrer "dystopische[n], patriarchale[n] Dimension" thematisiert werde. Wie Uerlings weiter zeigt, geht der Roman - und somit seine Autorin - "zu den problematischen Identifikationsbedürfnissen und Opferphantasien der Hauptfigur durchaus auch auf Distanz". Entscheidend hierfür sei, dass die Phantasien, denen die titelstiftende Figur über die Kolonialisierten anhängt, im Roman immer wieder "Bewährungsprobe[n]" unterzogen werden, an denen sie oft genug "zerschellen". Hierzu bediene sich Bachmann eines "äußerst facettenreiche[n] Spektrum[s] von Nähe und Distanz, kognitiver und/oder normativer Fremdheit, Figuren- und Textperspektive".

Damit widerspricht Uerlings nicht nur Christa Wolf, die kurz und bündig und falsch erklärt: "Die Bachmann aber ist [...] Franza." Eine umso befremdlichere Fehllesung, als sie von einer LiteratIn stammt. Kurz: Uerlings Feststellung, dass das "Gegenteil" zutreffe und die Textperspektive eben nicht diejenige Franzas sei, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Denn, die "oftmals zu imperialen Phantasien neigenden Vorstellungen der Protagonistin" werden in Bachmanns Roman-Fragment "auf vielfache Weise unterlaufen und ihre binären Oppositionen von 'Weißen' und 'Nicht-Weißen', Tätern und Opfern, unschuldigem Ursprung und schuldhaftem Verfall, Wilden und Zivilisierten, Befreiern und zu Befreienden werden vielfach dezentriert, ohne daß diese Vielstimmigkeit durch die Stabilisierung neuer Identitätseffekte wieder aufgelöst würde". In diesem Zusammenhang macht Uerlings - vermutlich als erster - darauf aufmerksam, dass Bachmann "zwei systematische Verzerrungen in Fanons Konzept" korrigiert, "die sich beide daraus ergeben, daß er die Dichotomie von Weißen und Farbigen für fundamental erklärt hat".

In Bachmanns Fragment, so lautet Uerlings treffendes Lektüre-Resümee, wird "[d]ie koloniale und zugleich patriarchale Subjektposition [...] durch ihren totalen Sieg kenntlich gemacht und durch die Kunst des ästhetischen Modells zugleich gründlich zerschrieben".


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Herbert Uerlings: "Ich bin von niedriger Rasse". (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
219 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412011061

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