Wer war Wolfgang Döblin?

Marc Petit auf den Spuren von Alfred Döblin und seinem Sohn

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Er hat sich im Alter von fünfundzwanzig Jahren, am 21. Juni 1940 das Leben genommen, als er sah, dass sein Bataillon von der Wehrmacht eingekesselt war. Er wollte nicht in die Hände der Nazis fallen, vor denen seine Familie einige Jahre zuvor geflohen war, um sich in Frankreich niederzulassen. Aber Vincent Doblin, mit wirklichem Namen Wolfgang Doeblin, Sohn des großen Schriftstellers Alfred Döblin, hatte damit seinem Schicksal noch kein Ende gesetzt [...]."

Mit diesen Worten kündigte die französische Nachrichtenagentur Agence France-Press im Mai 2000 die Veröffentlichung einer Abhandlung in den Berichten der Akademie der Wissenschaften an. Die Studie war während des Krieges in den Ardennen unter schwierigen Umständen und ohne jeden wissenschaftlichen Kontakt verfasst und im Februar 1940 in einem versiegelten Umschlag am Quai de Conti hinterlegt worden. Der Umschlag, der jedoch erst im Jahr 2000 in den Räumen der Akademie der Wissenschaften geöffnet werden konnte, enthielt die Lösung für die berühmte Gleichung des Mathematikers Kolmogorow und entpuppte sich als wichtiger Beitrag zur Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Dieser Vorfall weckte die Neugier und das Interesse des 1947 in Paris geborenen Germanisten und Romanciers Marc Petit und veranlasste ihn, sowohl das Leben des angehenden Mathematikers Wolfgang Döblin als auch das seines Vaters, des berühmten Schriftstellers und Verfassers von "Berlin Alexanderplatz" genau zu erforschen, wobei er sich einfühlsam in die von ihm porträtierten Charaktere und in die einzelnen Zeitabläufe hineingedacht hat.

Wer aber war Wolfgang Döblin? Geboren wurde er am 17. März 1915 in Berlin. "Er hatte seinen eigenen Kopf", sagte sein zwei Jahre jüngerer Bruder Claude, den der an der Universität von Tours lehrende Literaturwissenschaftler Petit ebenso eingehend befragt hat wie den jüngsten Bruder Stephan. Offensichtlich war Wolf, wie er oft genannt wurde, eher verschlossen und fühlte sich vor allem in der geistigen Welt zu Hause. Zudem war er überzeugter Atheist, stand der kommunistischen Partei nahe, war extrem links und verhielt sich gleichgültig gegenüber dem Judentum. Er liebte Musik und Bergwanderungen, hatte wenige Freunde und noch weniger Freundinnen. Er brauchte, wie der Mathematiker Paul Lévy bemerkte, "keine Lehrmeister".

Über Wolfgangs Kindheit konnte Petit nicht viel in Erfahrung bringen. Seinem Bruder Claude zufolge hatte er sich mit etwa zwölf Jahren entschieden, Mathematiker zu werden, wahrscheinlich aus Opposition zu seinem Vater. Und wie verhielt sich Wolfgang gegenüber Frauen? Sein Bruder Claude Doblin (französische Fassung von Klaus Döblin) wusste nichts darüber zu berichten. Vielleicht hatte ihm die Physik-Studentin Marie-Antoinette Baudot etwas bedeutet. Er hatte sie im Lesesaal der Bibliothek des Instituts Henri Poincaré kennengelernt. Es sei durchaus möglich, überlegt der Autor, dass Wolfgang sie geliebt habe, weil ihre Persönlichkeitsmerkmale zusammenpassten.

Petit versucht, Wolfgangs Schwächen zu ergründen, und bemüht sich, herauszufinden, wie es Wolfgang bei den französischen Soldaten wohl ergangen sein mag. Auch fragt er sich, ob Wolf seine Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht hätte nutzen können, um sich im Leben besser zurechtzufinden. Es sei doch "eine grausame Ironie des Schicksals [...], sterben zu müssen, ohne die geringste Garantie, eine Spur seiner Gedanken in einer chaotischen Welt zu hinterlassen, in der rückwärts gewandte Mächte im Begriff sind, den Sieg über Menschlichkeit und Vernunft davonzutragen."

Manche Aussagen über Wolfgang Döblin bleiben im Vagen. Beim Vater Alfred - er war als Spross einer assimilierten jüdischen Familie 1878 in Stettin geboren worden - tappt Marc Petit dagegen kaum im Dunklen. Anhand vieler autobiografischer Aussagen und anderer bekannter schriftlicher Zeugnisse fällt es ihm sehr viel leichter, ein Porträt vom Vater zu erstellen.

Schon als Quartaner habe sich Alfred, heißt es, literarisch betätigt. Kleist und Hölderlin waren nach Alfred Döblins eigenem Eingeständnis die Götter seiner Jugend, doch auch Spinoza, Schopenhauer und Nietzsche haben ihn beeinflusst, ebenso "Der Idiot" von Dostojewski. Petit verfolgt Döblins berufliche Entwicklung als Arzt und seine literarische Laufbahn. Er geht auf einzelne Romane ein - zum Beispiel auf "Die drei Sprünge des Wang-lun", auf "Wallenstein", auf die Trilogie "November 1918" und natürlich auch auf den Roman, der Alfred Döblin berühmt gemacht hat, auf "Berlin Alexanderplatz" - und spart familiäre Intimitäten nicht aus, weder Alfreds unehelichen Sohn Bodo aus dessen Verbindung mit der Krankenschwester Frieda Kunke, noch Yolla Niclas. Alfred Döblin war ihr 1921 auf einem Karnevalsball begegnet. "Schwester meiner Seele" nannte sie der Schriftsteller, dessen Werk und Sensibilität durch den sublimierten Ehebruch mit Yolla zwei Jahrzehnte lang geprägt wurden. Unter ihrem Einfluss ließ sich Döblin zu einer Rückkehr zu seinen Wurzeln überreden, genauer zu einer Reise nach Polen, wo er die jiddische Kultur entdeckte.

Marc Petit stellt Alfred Döblin als einen schwierigen, unangepassten, gesellschaftskritischen Menschen vor und schildert, wie Alfred Döblin mit seiner Familie gleich einen Tag nach dem Reichstagsbrand über Zürich nach Paris emigrierte.

Petit, der bei seinen Recherchen über den Sohn und sein Verhältnis zum Vater oft auf Vermutungen angewiesen war, glaubt nicht, dass die Gefühle zwischen Vater und Sohn besonders herzlich gewesen seien. Wolf habe immer auf Seiten der Mutter gestanden, die ihn verhätschelte und später seinen Selbstmord nicht wahrhaben wollte. Indes gibt es zwischen Alfred und Wolfgang auch einige Gemeinsamkeiten, zumindest ein Gefühl der Fremdheit gegenüber dem Leben, das den einen "in die Arme der Literatur und den anderen in die der Mathematik" getrieben habe. Jeder, sowohl der Romanautor als auch der Mathematiker, habe sich völlig seiner Kunst verschrieben und sei von ihr verzehrt worden, der Vater von der schönen Literatur und der Sohn von der Wissenschaft, also von zwei Wirkungsgebieten des menschlichen Geistes.

Politisch lagen beide nicht auf der gleichen Wellenlänge, Wolfgang stand entschieden weiter links als Alfred, der bei der Vorstellung einer Diktatur des Proletariats außer sich geriet. Wolfgang, offensichtlich ein "politischer Kopf" und seit frühester Jugend ein unabhängiger Geist, hatte die Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging, wohl noch eher erkannt als der Vater.

Als 1939 der Krieg ausbrach, fand Alfred eine Anstellung beim französischen Informationsministerium, während sein Sohn beim französischen Militär Funker wurde. Im Juni 1940 ereilte ihn dann in Housseras sein trauriges Schicksal.

Als Alfred, Erna und Stephan einige Wochen später, am 30. Juli 1940, Marseille in Richtung spanische Grenze verließen, um in den USA Zuflucht zu suchen, lebte Wolfgang nicht mehr, sondern ruhte schon seit über einem Monat auf einem Friedhof in den Vogesen.

Mit dem zweiten Exil begann für das Ehepaar Döblin eine lange Zeit voll Sorgen und Bitterkeit. Die Ungewissheit über das Schicksal ihrer in Frankreich zurückgebliebenen Söhne zerrte an ihrer seelischen Verfassung.

Von Wolfgangs Tod erfuhr die Familie erst im März 1945. Es hieß, er sei am 21. Juni 1940, einen Tag vor dem Waffenstillstand, gefallen. Im November 1945 wurden der Schriftsteller und seine Frau dann von den tatsächlichen Umständen des Todes ihres Sohnes unterrichtet.

Diese Nachricht hinterließ bei den Eltern unheilbare Wunden. Alfred Döblin, inzwischen zum Katholizismus konvertiert, widmete sich dem Schicksal des Sohnes verschlüsselt in seinem großen Roman "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt kein Ende." Die letzten Jahre waren die traurigsten seines Lebens. Zuletzt existierte der an Parkinson'scher Krankheit leidende und schließlich gänzlich gelähmte Alfred, schreibt Petit, "nur noch für Bertolt Brecht, Hans Henny Jahnn, Günter Grass und Arno Schmidt."

Er starb am 26. Juni 1957 in Emmendingen und wurde neben seinem Sohn Wolfgang auf dem Friedhof von Housseras begraben, Erna Döblin setzte am 14. September 1957 in der Pariser Wohnung ihrem Leben ein Ende und wurde ebenfalls in dem lothringischen Dorf neben Mann und Sohn beigesetzt.

Kein Zweifel, der Autor hat dokumentarisches Material intensiv gesammelt und gesichtet und bislang unbekannte Quellen und Zeitzeugnisse geschickt ausgewertet. Herausgekommen ist auf diese Weise ein faszinierendes, vielschichtiges Doppelporträt von Alfred und Wolfgang Döblin. Aber Petit lässt nicht nur beide in ihrer Umwelt und mit ihrer Zeit lebendig werden, er unternimmt daneben auch spannende, kenntnisreiche Ausflüge in die Politik, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und in das nicht eben einfache Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie - oft mit einer geradezu verwirrenden Detailfülle, die die Lektüre komplex und nicht immer leicht machen. Er selbst erweist sich dabei als rastloser Spurensucher und darüber hinaus als fulminanter Erzähler.


Titelbild

Marc Petit: Die verlorene Gleichung. Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
400 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821857498

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch