Kafka-Bilder und ihre Abhängigkeit von der Übersetzung

Kerstin Gernigs "Die Kafka-Rezeption in Frankreich"

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dem Stichwort "Kafka in Frankreich" denkt man nicht nur an diskursanalytische oder dekonstruktive Lektüren, sondern auch an den langen Rezeptionsweg des Kafkaschen Œuvres. Nach dem Ende des II. Weltkriegs ist Kafka über Frankreich in die Bundesrepublik vermittelt worden. Walter Muschg, der sich dieses Aspektes in dem Aufsatz "Der Ruhm Kafkas" angenommen hat, schrieb damals, dass die zweite Quelle von Kafkas Ruhm in Paris fließe. Das Kafkabild in Frankreich hat die Rezeption in Deutschland entsprechend stark beeinflusst, denn neben der theologischen Deutung Max Brods haben sich dort teilweise sehr früh surrealistische und existentialistische Lesarten durchgesetzt. Für die Untersuchung der Frage, was von dem Kafkabild in Frankreich seit den 20er Jahren (und dadurch indirekt in Deutschland nach 1945) der Übersetzung Kafkas ins Französische geschuldet ist, vermisst Kerstin Gernigs vergleichende Studie erstmals das Terrain.

Gernig stellt ihre Disseration in der Einleitung als "Beitrag zur Geschichte der Übersetzung im Kontext der hermeneutischen, literatur-, sprach- und übersetzungstheoretischen Reflexionen" vor. Sie untersucht ausgewählte französische Kafka-Übersetzungen von den 20er bis in die 80er Jahre. Ziel ist es, die Übersetzungspraxis diachron zu untersuchen und die Faktoren für deren Veränderungen anzugeben. Dabei steht nicht die Frage nach einer möglichen Erkenntnis des Originals im Vordergrund, sondern das Spannungsverhältnis, das im Überlieferungsgeschehen zwischen Original und Übersetzung entsteht. Mit Friedmar Apel geht Gernig davon aus, dass es keine eindeutigen Beziehungen zwischen Original und Übersetzung geben kann. Sie bietet entsprechend keine Fehleranalyse, sondern zeichnet - konsequent rezeptionsgeschichtlich - die signifikanten Differenzen der Übersetzungen im Verhältnis zum Original nach.

Alaxandre Vialatte, der erste Übersetzer Kafkas, bestimmte bis in die 70er Jahre hinein die Rezeption Kafkas in Frankreich. Anfang der 70er Jahre überarbeitete der Germanist und Kafkaforscher Claude David diese Übersetzung für die "Édition de la Pléiade". Aufgrund der Rechtesituation mussten die Verbesserungen und Neuübersetzungen jedoch in den Anmerkungsapparat eingefügt werden. In den 80er Jahren erschienen parallel zwei Übersetzungen von Bernard Lortholary und Georges-Arthur Goldschmidt. Beide formulierten dazu theoretische Positionen, in denen ihr Vorgehen mehr oder weniger detailliert begründet wurde. Goldschmidt betont dabei die "irreduzible individuelle Sichtweise der Sprachen", die in Übersetzungsschwierigkeiten deutlich wird, und hob den subjektiven Aspekt des Verstehens hervor. Lortholary akzentuiert die Wichtigkeit der syntaktischen Analyse und die Relevanz der Konnotationen für das Übersetzungsgeschehen.

Die Autorin schickt ihren konkreten Analyen einen Abriss der Übersetzungswissenschaft im 20. Jahrhundert voraus und zeichnet darin verschiedene Paradigmenwechsel nach. Auf den übersetzungswissenschaftlichen Abriss folgt eine kursorische Darstellung der Publikationsgeschichte von Kafkas Werk in Deutschland und der Übersetzungen in Frankreich sowie der Rolle der Publikationskontexte für die Rezeption und Interpretation. Für Deutschland ist hier zunächst die zeitliche Parallelität der ersten Kafka-Publikation zum Expressionismus zu nennen, für Frankreich der Kontext des Surrealismus. Am Beispiel des Surrealismus wird die Bedeutung des Kontextes für die Übersetzungspraxis augenfällig: Ungereimtheiten und fehlerhafte Übersetzungen werden der surrealistischen Ästhetik bzw. der "zügellosen Phantasie" zugerechnet. Einfluss genommen haben auch Max Brods religiöse Interpretationen und philosophische Lesarten. Ein entscheidender Paradigmenwechsel tritt in den 60er Jahren ein: Die Konzentration auf Sprachstrukturen in der Linguistik beeinflusst die Kafka-Interpretation und damit auch die Übersetzung. Gernig spricht im Zusammenhang mit der kritischen Methodenreflexion Anfang der 70er Jahre vom "eigentlichen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Kafka-Rezeption". Es wird keine endgültige Interpretation mehr angestrebt, die Frage nach dem Sinn wird durch die Frage nach der Wirkung abgelöst. In den 80er zeigt sich diese Tendenz verstärkt unter dem Einfluss des Poststrukturalismus: Es geht nicht mehr um eine definitive Bedeutungskonstituierung, sondern um eine Verwendungsweise von Zeichen, deren Bedeutungen sich "in einer unendlichen Bewegung der Sprachverwendung verschieben".

Dem Vergleich der Übersetzungen schickt Gernig eine Stilanalyse der Texte Kafkas voraus, die in kurzer Form die wesentlichen Elemente aufführt: "Beamtendeutsch" (u.a. der "'konjunktivisch-potentiale Charakter des Besagten', das 'Beständige Ineinanderketten von Konditional- und Konzessivsätzen'", das als syntaktische Grundform juristischer Erörterungen erscheine), die Bildlichkeit (u.a. das Prinzip des Wörtlich-Nehmens von Metaphern, wie es Günther Anders aufgezeigt hat, das Spiel mit konkreten und abstrakten Bedeutungen von Bildern), Polyvalenzen, Wort- und Sprachspiele, die von Gerhard Neumann beschriebene Figur des "gleitenden Paradox'", der Umgang mit Redewendungen (u.a. durch Abwandlungen erscheinen vertraute Sachverhalte in einem neuen Licht) sowie schließlich die Erzählperspektive mit ihrer Uneindeutigkeit im Oszillieren zwischen erzählenden, erlebenden, erinnernden und reflektierenden Passagen. Diese stilistischen Merkmale werden dann in den Kontext der Sprachskepsis der Jahrhundertwende eingebettet. An die Stelle der allwissenden Erzählerinstanz tritt, so Gernig, "die Subjektivität des Protagonisten als Bedingung von Wahrnehmung und Erkenntnis", die Sprache verweist auf die Art der Aussage selbst, wodurch die Alltagslogik und der Wahrheitsgehalt von Aussagen in Frage gestellt werden.

Für die konkrete Analyse und den Vergleich der Übersetzungen des Prozeß-Romans wählt Gernig zunächst exemplarisch den ersten Satz des 9. Kapitels und die Türhüterlegende aus. Die Türhüterlegende bildet den Roman metatextuell ab und ist ein zentraler Bestandteil des gesamten Werkes. Die Untersuchung der Übersetzungsvarianten folgt u.a. der Frage, inwieweit die Offenheit und Vieldeutigkeit der Texte im Rahmen des Möglichen gewahrt worden seien. Hier zeigt sich, wie die jeweilige Wortwahl, Auslassungen oder Textergänzungen die Lesart des Textes verändern. So werden z.B. aus unpersönlichen Wendungen bei Kafka in Vialattes Übersetzung personale Zuschreibungen, Konkretionen heben hypothetische Konstruktionen auf, Wiederholungen im Originaltext werden in der Übersetzung durch Synonyme und Paraphrasen ersetzt. Vialattes Übersetzung betont die Expressivität von Sprache. Gernig führt diese Dramatisierung auf mögliche Einflüsse des deutschen Expressionismus und des französischen Surrealismus zurück. Dadurch aber, dass Vermutungen, Hypothesen oder konjunktivische Wendungen in affimirmative Aussagen umgewandelt werden, tritt Kafkas Sprachskepsis in den Hintergrund. Vialattes Übersetzungen ließen den Eindruck einer latent erklärenden Funktion und Vermeidung von Elementen entstehen, die das Lektüreverständnis möglicherweise erschweren könnten. Uneindeutigkeiten, eventuell irritierende Momente wurden in einen konventionellen Sprachgebrauch übertragen. "Erst die Übersetzungen aus den 80er Jahren tragen den sprachtheoretischen Überlegungen Rechnung, indem sie den Modus der Aussagen, die Perspektiven und die Wiederholung von Schlüsselbegriffen weitgehend übertragen. Damit wird einem historisch veränderten Erwartungshorizont entsprochen, für den das innovative Sprachpotential bereits zur Tradition geworden ist."

Besonders deutlich wird der Einfluss der Interpretation auf die Übersetzung am Beispiel des religiösen Diskurses und des damit verbundenen Begriffs der Schrift, der in den französischen Übersetzungen (mit Ausnahme jener von Lortholary) religiös konnotiert wird. David vertritt diese religiöse Lesart explizit, Goldschmidt hingegen favorisiert keine eindeutige Interpretation, obwohl auch seinen Übersetzungen eine latent religiöse Interpretation zugrundeliegt. Nur Lortholary unterstreicht den paradoxalen und hypothetischen Charakter des Textes.

Die Analyseergebnisse aus dem Prozeß werden im Anschluss noch einmal an der "Verwandlung", dem "Verschollenen" und dem "Schloß" überprüft. Nun untersucht Gernig die Übersetzungsprinzipien anhand der Erzählperspektive, des Modus' der Aussagen sowie anhand des Umgangs mit fehlenden kausal-logischen Verbindungen und idiomatischen Redewendungen, mit der lokalen und temporalen Deixis oder der Interpunktion. Die Ergebnisse bestätigen im wesentlichen noch einmal die an der "Türhüterlegende" gewonnenen Erkenntnisse. Vialatte geht nicht sprachsekptisch, sondern spielerisch mit Sprache um, "wozu auch gehört, daß er eigene Vorstellungen, Wertungen und Interpretationen in die Übersetzung einfließen läßt." Die Übersetzungen von Goldschmidt und Lortholary dagegen "belegen auf eindrucksvolle Weise, welch hoher Grad an Äquivalenz durch die genaue linguistische Analyse trotz einiger Strukturdifferenzen des Sprachenpaars erreicht werden kann." Nicht die Referenzbereiche der Ausgangstexte führen zu den jeweiligen Stilprinzipien des Übersetzers, sondern die Übersetzungen sind in einem individuellen, historischen und übersetzungstheoretischen Bedingungsgefüge verwurzelt.

Gernigs Arbeit bietet insgesamt eine gelungene Handhabung der wissenschaftlichen Rahmenbedingungen ihres Themas. Die übersetzungswissenschaftlichen, linguistischen, literaturwissenschaftlichen und nicht zuletzt philosophischen Eingangsbedingungen werden plausibel und ohne gegenseitige Irritation aufeinander bezogen. Die interdisziplinäre Perspektive führt zu gelegentlichen Wiederholungen, die aber der Gründlichkeit wegen in Kauf genommen werden müssen. Die Arbeit ist zugleich, wie die Autorin selber bemerkt, eine gute Ausgangsbasis für Untersuchungen zum Einfluss Kafkas auf französische Autoren. Sie kann Fragen dienlich sein, die der Abhängigkeit des Kafkabildes von der Übersetzung nachgehen. Das Beispiel Vialattes zeigt, dass bis in die 70er Jahre hinein die Kafka-Rezeption in Frankreich durch signifikante Eingriffe in die Gestalt, den Stil und den Inhalt geprägt worden ist. Abhängigkeiten der Interpretation von der Übersetzung nachzuforschen gehört noch zu den Desideraten der Forschung. Die Grundlagen dafür sind jedoch geschaffen.

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Kerstin Gernig: Die Kafka-Rezeption in Frankreich. Ein diachroner Vergleich der französischen Übersetzungen im Kontext der hermeneutischen Übersetzungswissenschaft.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
220 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826016947

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