Authentische Groteske

Über Imre Kertész' "Dossier K"

Von Barbara Mahlmann-BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mahlmann-Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies sei das erste und einzige Buch, das er "eher auf äußere Veranlassung als aus innerem Antrieb" geschrieben habe, "eine regelrechte Autobiographie". Kertész schrieb sein "Dossier K. Eine Vermittlung" vor allem für ungarische Leser. Die älteren von ihnen, die sich in der Diktatur eingerichtet hatten, müssen sich damit befassen, dass ein Mitbürger, der währenddessen mit nichts als ephemeren Feuilletonartikeln, Lustspielen und Übersetzungen hervorgetreten ist, 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Die jüngeren Leser, die sich schon vor 1989 bemühten, westliche Kultur kennenzulernen, Kertész' Bewunderung für Thomas Mann teilen und, vielleicht sogar von ihm inspiriert, den Anschluss an die seit 1956 verschüttete, große kakanisch inspirierte ungarische Erzähltradition suchen, wollen jedenfalls mehr über Kertész wissen, da er sich vom System nicht unterkriegen ließ, sondern im Stillen gute, dauerhafte, klassische Literatur schrieb. Vielleicht weil seine ungarischen Leser in diese beiden Klassen der älteren und jüngeren fallen und kaum vereinbare Anforderungen an ihn haben, wählte Kertész die Form des Dossiers, um Auskunft über sich zu geben.

Im Dictionnaire der französischen Sprache, dem Petit Robert, wird der Begriff "dossier" definiert als "Ensemble de pièces relatives à une affaire et placées dans une chemise; la chemise, le carton, qui les contient." "Connaître le dossier de quelque chose" bedeutet: auf der Höhe des offiziellen Informationsstandes über eine Frage von öffentlichem Interesse zu sein. Ein Dossier ist ein Suchbild, das eine Behörde aus offiziellen Aktenstücken, öffentlich zugänglichen und privaten Dokumenten über eine Person zusammenstellt, um einen eingeweihten Kreis oder eine genehme, behördenkonforme Öffentlichkeit über sie zu informieren. In einer Diktatur sind Dossiers über missfällige Personen geheime Wissensspeicher, die den Machthabern Macht über sie geben. Die Daten, an denen eine Behörde Interesse hat, sind jedoch nicht unbedingt solche, die der Betroffene für persönlich wichtig hält. Kertész spielt mit diesem Medium (oder ist ein Dossier auch eine Gattung?), um sein Verhältnis zum ungarischen Lesepublikum zu klären.

Der Untertitel spielt auf Peter Weiss' dramatisch-oratorische Inszenierung des Auschwitz-Prozesses in "Die Ermittlung" an, für die Gedächtnisprotokolle der Frankfurter Gerichtsverhandlung und eines Lokaltermins in Auschwitz das Material lieferten. Aber die Ermittlung gegen den seit seiner Rückkehr aus Auschwitz und Buchenwald notorisch unangepassten "K." wandelt sich im Lauf der Befragung zu einer gemeinsam mit dem Interviewer angestellten gegen ein totalitäres System, dessen Absurdität nur in einer Art Fortschreibung der Romane Kafkas erfassbar sei und in dem "Menschen zum Kind" entmündigt und ihrer Verantwortung beraubt werden. Die Fragen zu seiner Person und seinem Schriftstellerberuf, die Kertész seinem fingierten Interviewer zuschreibt, dokumentieren die schwierige, kurvenreiche Annäherung zwischen dem unnachsichtigen Kritiker des ungarischen Kommunismus und der Mehrzahl seiner Landsleute, die erst das Nobelpreiskommittee über ihren bedeutenden Gegenwartsautor, den abgetauchten, verkannten und unterschätzten K., aufgeklärt hat.

Kertész unterstellt zu Anfang dem Interviewer, dass er sich, wie der Reporter einer westlichen Illustrierten, mehr für die Person als für das Werk oder gar seine literarischen Vorbilder interessieren würde. Also gibt er anfangs bereitwillig, mit spöttischem Unterton ("Am Ende willst du noch Babyfotos von mir sehen"), Auskunft über seine Kindheit, die Mutter, den Vater, den Großvater väterlicherseits, einen charismatischen Juden namens Klein, der sich aus dem Kleinbauernstand hocharbeitete und den Familiennamen ungarisierte, und die Großeltern mütterlicherseits, über die er wenig zu berichten weiss. Der geschäftstüchtige Großvater mit seinen dienstbeflissenen Ilonkas, die elegante Mutter, deren politische Unbekümmertheit ihr das Paktieren mit dem nationalsozialistischen und stalinistischen Teufel nicht als teuflisch erschienen ließ, das Spektrum ihrer Verehrer und die melodramatische Stiefmutter, eine exzentrische Person, haben allesamt, sobald Kertész sie fixiert, das Potential zu Figuren eines komischen jüdischen Familienromans, der sicherlich bis zur Wende unerwünscht gewesen wäre. Gegen Ende der Ermittlung hat sich der Interviewer, ein nicht-jüdischer, wesentlich jüngerer Landsmann, allerdings Kertész' Sympathie erworben, da er sein Werk vom ersten bis zum letzten Roman vorzüglich kennt und die Gelegenheit wahrnimmt, aus bislang in Ungarn unveröffentlichten Dokumenten - beispielsweise einem Bericht über eine Auschwitz-Exkursion mit den Mitgliedern der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung oder einer Rede zur Wiedereröffnung der Ausstellung über "Die Verbrechen der Wehrmacht" im Hamburger Institut für Sozialforschung - zu zitieren.

Es ist Kertész, der dieses Interview steuert, indem er sich einen Wunsch-Interviewer erschafft, der durch das Stellen so genannter "heikler" Fragen nach jüdischer Solidarität im kommunistischen Ungarn seine Befangenheit zugibt. Durch diese Vermittlerfigur erfüllt sich Kertész den Traum von einem wissbegierigen, lernfähigen Lesepublikum. Kertész macht sich einen Spaß daraus, den Erziehungsprozess seines Publikums seit der Wende, beschleunigt noch seit 2002, vorzuführen. Allerdings macht ihm der zunehmend sympathischere Interviewer, dessen reales Vorbild Zoltán Hafner ist, ein befreundeter Verleger, der für ein "General-Interview" Tonbandaufzeichnungen vorbereitet hatte, auch den Lernprozess bewusst, den er, Kertész, selbst durchlaufen musste, bis er sich eine neue Identität als Schriftsteller erarbeiten konnte, der frei und ungehindert schreiben kann und auf den man weltweit hört. Die Rettung der eigenen Identität durch den Beschluss, sich nicht anzupassen, sondern unbeirrt von äußeren Widrigkeiten nach der idealen Ausdrucksform für seinen Roman, seine Überlebensgeschichte als Schicksalloser, zu suchen, war für Kertész seit den fünfziger Jahren zur neuen, aber durch seine Auschwitz- und Buchenwalderfahrungen längst vertrauten Überlebensstrategie geworden.

Eine Identität habe er schon als zwischen Mutter und Stiefmutter hin- und hergeschobener Junge nicht gebraucht, sondern honoriert wurde damals "Anpassungsfähigkeit". In der ungarischen Nachkriegsgesellschaft bestätigte sich die in Auschwitz gemachte Erfahrung, dass "das Geheimnis des Überlebens... die Kollaboration" sei. Dagegen habe er als Schriftsteller immer wieder neu an seiner Identität gearbeitet, indem er sie einer Romanfigur überstülpte, sie damit gleich verlor und wieder von neuem beginnen konnte. Er habe sich seit seiner Jugend von dem, was ihm und allen anderen "als unüberwindbare Qual" erschien, befreit, indem er sein Leben und Leiden zum "Rohstoff für einen Roman", zum "Rohmaterial für meine Kunst", machte. Zugunsten dieser Identifikation mit seinen erfundenen Figuren konnte Kertész die Ängste und Nöte der Teenagerzeit von sich abspalten, als er selbstverloren "einen Seiltanz" vollführte, ohne sich heute daran erinnern zu können, wovon er sich damals ernährte, "als fast alle Lebensmittel auf Marken verkauft wurden". Sein Ich sei ihm "ein unbekannter Faktor" gewesen, "die reine Passivität".

Ausgangspunkt der Befragung ist, was die meisten Leser des "Roman eines Schicksallosen" irritiert: das Verhältnis zwischen authentischem Erleben und Fiktion, das nun zu einem Vexierspiel zwischen Interviewer und Interviewtem wird: Kertész weicht den anfänglichen Versuchen aus, das im Roman Geschilderte in der Zeit- und Lebensgeschichte dingfest zu machen: György Köves im "Roman eines Schicksallosen" ist nun einmal eine Romanfigur. Gegen Ende überrascht Kertész den Fragenden allerdings mit Bekenntnissen, die dieser gar nicht mehr erwartet hätte, beispielsweise über die Identität der Personen in "Fiasko" (erstmals 1998, deutsch 1999): Der "Alte" in "Fiasko", der über "Steinig" schreibt, sei so sehr Imre Kertész wie Emma Bovary mit Gustave Flaubert identisch sei! Steinig alias Kertész sei dem perspektivlosen Leben in Budapest nicht entflohen, weil er einen Roman schreiben wollte, den er nur in ungarisch schreiben könne, für den er aber die Sprache eigentlich erst erfinden müsse und der niemanden interessiere. Sich selbst über die Motive klar zu werden, wieso er, der doch mit der Diktatur unüberbietbare Erfahrungen hatte, dennoch im totalitären Ungarn blieb, war für Kertész wahrscheinlich das Urmotiv für sein "Dossier K" Wie wohltuend, dieses Geständnis den Interviewer aussprechen lassen zu können, und zudem noch als Zitat aus "Fiasko", das der Ermittler in seiner "Groteskheit doch als sehr authentisch" empfinde! Auch Fragen seien durchaus erlaubt, auf die er, Kertész, keine Antwort wisse, denn alle großen Entscheidungen hätten immer etwas unbegreiflich Groteskes.

Das "Dossier K." schließt an das "Galeerentagebuch" (erschienen erstmals 1992, auf deutsch 1993) an. Nur vertraut Kertész seine Reflexionen über die Schwierigkeiten zu schreiben einem erfundenen Adressaten an, der ihn angesichts der "Türme von Stockholm" einer jungen ungarischen Leserschaft näherbringen soll. 2003 erschien "Liquidation", Kertész' erster Roman, "der in Gänze nach dem Systemwechsel entstanden ist" und "die Freiheit zum Thema" hat. "Die Liquidation" ist der Titel einer von der Hauptfigur verfassten Komödie. Zugleich indiziert er als Romantitel den Selbstmord, die Auslöschung dieser Figur, des Schriftstellers Bé, den der Lektor Keserü (ungarisch "Bitter") dazu angeregt hat, seine Lebensgeschichte als in Auschwitz geborenes Lagerbaby in Romanform aufzuschreiben. An diesem Roman ist Bé zugrundegegangen, Keserü hat ihn darauf angesetzt und somit auf dem Gewissen, wird aber um das ersehnte Romanmanuskript geprellt.

Hier ist doppelt wahr, was Kertész über die Erleichterung, ja Befreiung von seiner Identität durch deren Überstülpung auf Romanfiguren schreibt: Denn ein Teil von ihm wanderte in Bé hinein, der wie Kertész in Auschwitz war und Thomas Bernhard, den Verfasser einer anderen Zerfallsgeschichte in "Auslöschung", übersetzt hat; ein anderer Teil von Kertész konkretisiert sich im Lektor Keserü, einem Opportunisten, der erst allmählich zum Regimegegner wird und von Thomas Manns "Doktor Faustus" ähnlich berührt erscheint wie der Autor Kertész. Bé verübt den Selbstmord aus Freiheit, nachdem er über ihn als alltägliche Verlängerung des Lebens geschrieben hat. "Ja, nach Auschwitz am Leben zu bleiben ist - nun ja... ein wenig banal. Sozusagen erklärungsbedürftig", räsonniert Kertész voller Bewunderung für Jean Améry, der erst durch den Selbstmord "seinem Leben eine Form" verliehen habe.

Überhaupt ist von den Bedingungen des Überlebens und Weiterlebens an vielen Stellen im "Dossier K." die Rede. Zu ihnen zählt das Schreiben von "Liquidation", insbesondere der Entwurf von Bé und Keserü. Auch die stalinistische Diktatur habe Kertész, lässt er seinen Interviewer sagen, möglicherweise "vorm Selbstmord bewahrt". Hätte er Morphium oder ein wirksames Gift bei der Hand gehabt, wer weiß, ob er nicht auch in ernste Lebensgefahr geraten wäre: "ich wollte immer sterben und schrieb stattdessen immer ein Buch".

Das "Galeerentagebuch" gibt Auskunft über Kertész' Lektüre deutscher, englischer und französischer Literatur und zielt damit dezidiert auf westeuropäische, keinesfalls ungarische Leser. Noch aufregender ist die Umgruppierung des ungarischen Literaturkanons, an der Kertész im "Dossier K." seine ungarischen Leser teilhaben lässt. Die ungarischen Autoren, zu denen sich Kertész bekennt, sind größtenteils zwischen 1878 und 1918 geboren. Die beiden ältesten sind Jakos Arany (1817-1882) und Mor Jokai (1825-1904), der jüngste ist Mihaly Kornis (geb. 1949), der Theaterdichter, der wie Kertész in der Absurdität der ungarischen Nachkriegsgeschichte sein Thema gefunden hat.

Ungarische Leser werden besser als Deutsche nachempfinden können, was es nach der Wende bedeutet, sich zu Szandor Márai (1900-1989) zu bekennen, der nach seiner USA-Emigration in Ungarn persona non grata war, und Autoren wie Tibor Déry (1888-1977), der von 1956 bis 1961 inhaftiert war, Iván Mándy, der nach 1952 zwanzig Jahre auf die Veröffentlichung seiner Novellen warten musste, zu den bewunderten Vorbildern rechnen zu dürfen. Undenkbar wäre es vor 1989 für einen ungarischen Intellektuellen gewesen, aus Arthur Koestlers Autobiografie "Pfeil ins Blaue" zu zitieren. Wes Geistes Kind der nicht-jüdische Interviewer ist und dass er Kertész' Vertrauen verdient, erweist sich daran, dass er Kertész bei diesem Zitat ertappt, sich also selber schon als Koestler-Leser zu erkennen gibt. Aufschlussreich für die Mentalität von Kertész' ungarischen Lesern ist seine Bemerkung, dass sie aus seiner komischen Erzählung "Das Protokoll" ein Kultbuch gemacht haben. Im Rückblick mokieren sie sich wahrscheinlich über die dort im Stil eines Kriminalromans geschilderten Diskriminierungen, denen Reisende beim Grenzübertritt in den Westen ausgesetzt waren. Sie erkennen sich sowohl im Reisenden wieder, der wie der Autor Kertész ein ehemaliger Lagerhäftling ist und von damals noch den Zustand kennt, schuldlos verurteilt zu werden, als auch in den Zöllnern, die ihm pflichtschuldigst die nicht-deklarierten Devisen abnehmen und ihn ohne Geld nach Hause zurückschicken.

Leider tun die Übersetzerin Kristin Schwamm und die Lektorin Ingrid Krüger zu wenig, um die deutschen Leser am Prozess der Selbstverständigung über die ungarische Literatur und die Umwertung des Kanons zu beteiligen. Zehn Fußnoten mit den Lebensdaten und einigen Werktiteln sind einfach zu wenig, wenn Kertész sich mit seinem Interviewer über knapp dreißig ungarische Autoren verständigt und ihre Bedeutung für sein eigenes Werk würdigt! Hier hätte der Rowohlt-Verlag mit Kertész als Zugpferd eines erweiterten, verjüngten ungarischen Kanons eine reizvolle Aufgabe vor sich gehabt und mit neugierigen, dankbaren deutschsprachigen Lesern rechnen dürfen. Diese Chance wurde vertan.


Titelbild

Imre Kertész: Dossier K. Eine Vermittlung.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
238 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498035304

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