Unfreiwillige Musealisierung

Revolution war gestern oder was Revolution gestern war: Ein Sammelband über Guy Debord und die Situationalistische Internationale

Von Corinna PapeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Corinna Pape

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband "Spektakel - Kunst - Gesellschaft" zum gleichnamigen Symposium, das vom Bureau für Philosophie, den Gruppen monochrom und Café Critique 2005 in Wien organisiert wurde, möchte Guy Debord und die Situationistische Internationale in ihrem revolutionären Anspruch ernst nehmen.

"Revolutionäre Kohärenz" - das klingt wunderbar skurril, hätte damals in den 1960er Jahren aber dank der Situationisten, einer Gruppe von Künstler-Revolutionären, glatt zum Unwort des Jahrzehnts avancieren können. Marxisten, Kommunisten, Stalinisten gibt es noch immer, aber was machen eigentlich die Situationisten heute? Hat deren Schlüsselfigur Guy Debord sie 1994 allesamt mit in den (Frei-)Tod gerissen? Wenn seit einigen Jahren von einer nicht zu unterschätzenden Aktualität der Debord'schen Kritik die Rede ist, verharren all die Aufmerksamen da nicht lediglich an der Oberfläche? Die Parallele zwischen Debords Thesen und unserer postmodernen Bilderwelt erscheint zwar mehr als offensichtlich, wenn dieser das gesamte Leben der Gesellschaften, in denen moderne Produktionsbedingungen herrschen, als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln beschreibt. Doch Debord lässt eine Endzeitstimmung á la Baudrillard gar nicht erst aufkommen: Denn wo die postmodernen Theoretiker jeglichen Ursprung negieren und somit auch keine Hoffnung auf Erlösung propagieren, hatten die Situationisten ihre Vision aus der Misere bereits gefunden. Ihnen ging es um die Auferstehung einer wirklich revolutionistischen Gemeinschaft, die sich dem Spektakel, der "ungeheuren Warengesellschaft" (Marx), zu entziehen vermag. Wie ihnen das gelingen sollte, und ob es lediglich einer Überwindung der Warengesellschaft bedarf, um den Menschen aus seiner Abhängigkeit zu befreien, darüber schwieg sich Debord jedoch gekonnt aus. Eher bescheiden fragt der Sammelband nun nach der heutigen "Relevanz von emanzipatorischen Konzepten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" dennoch mit dem Anspruch, sich nicht mit einer Musealisierung der Situationistischen Internationale zu begnügen.

Bereits nach dem ersten Beitrag des Autorenkollektivs Biene Baumeister Zwi Negator, der neben einer löblichen Auseinandersetzung mit der Ausblendung der Shoa durch die SI eine kritische Einordnung des Situationismus vornimmt, lässt sich resümieren, dass das emanzipatorische Potential von Guy Debord und seinen Anhängern offensichtlich gegen Null tendiert. Denn das Ziel, die "objektiven wie subjektiven Verdrängungsmechanismen zu entschlüsseln und zur Sprache zu bringen", hatten bekanntlich auch schon Freud oder die Surrealisten. Und wenn die "zyklischen Mechanismen und Formen, welche die objektive Möglichkeit einer Revolution verhüllen", heute wie damals dieselben geblieben sind, wie die Autoren feststellen, und Theodor W. Adornos "Reflexionen zur Klassentheorie" im Vergleich mit Debords 25 Jahre später erschienenen Buch "Die Gesellschaft des Spektakels" geradezu "frappierende Ähnlichkeiten" aufweisen, geht höchstens ein Bonuspunkt für zeitgemäße Adaption an die so genannte Situationistische Revolutionstheorie.

Besonders im zweiten Beitrag des Autorenkollektivs "Proletariat - Kunst - Sprache. Situationistische Rekonstruktion und Aufhebung" werden die Vorreiterrolle der Frankfurter Schule wie auch der theoretisch-marxistische Hintergrund von Debords Spektakelanalysen nachgezeichnet. Damit eröffnet sich zugleich das Problemfeld des Theorie-Praxis-Bezugs, an dem schon der Marxismus gescheitert ist. Die Situationisten, deren integraler Bestandteil ein solches Scheitern letztlich ebenfalls war, halten sich zwar gerade deshalb so stark an die umso radikalere Kritik eines Adorno - und folglich wird dessen Name in dem Band auch sehr häufig erwähnt - doch scheinen Debord noch weniger Argumente zur Verfügung zu stehen, um sich gegen den Vorwurf einer Elfenbeinturmkritik zu wehren. Das Vorhaben aller Beiträge, Debord und seine Anhänger in ihrem revolutionären Anspruch ernst nehmen zu wollen, wird auch für Stephan Grigat zum Fallstrick: In seinem Text "Fetischismus und Widerstand. Guy Debords Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie und die Schwierigkeiten der Gesellschaftskritik nach Auschwitz" behauptet er rechthaberisch, dass "die heutige Linke in ihrer poststrukturalistischen Ausprägung [...] immer mehr in Geplapper" endet. Hier wäre es weitaus sinnvoller gewesen, sich einigen durchaus vorhandenen Anknüpfungspunkten mit poststrukturalistischen Ansätzen (wie zum Beispiel der Alltagsorientierung) zu widmen, was interessanter, vor allem aber abwechslungsreicher hätte sein können, als sich erneut auf Adorno zu berufen.

Gänzlich zu entbehren gewesen wäre der Beitrag "Man reiche mir einen anderen Kosmos, oder ich krepiere" von Alexander Emanuely, der lediglich aus einer Nacherzählung der Biografien von Carl Einstein und Arthur Cravan besteht. Durchaus lesenswert dagegen ist die exemplarische Untersuchung Bernd Beiers zu den Kongruenzen zwischen Situationisten und der aktuellen Bewegung der französischen Kulturprekären, wenngleich er dabei die aktuelle Entwicklung etwas zu detailreich beschreibt. Dass Beiers Text wie auch der nachfolgende Beitrag von Eiko Grimberg ("Was die SI mit der Kunst wollte") exakt dieselben Sätze Guy Debords (aus: "Die Gesellschaft des Spektakels") zitiert, ist allerdings bezeichnend für das sich dank Grimbergs Artikel nun heraus kristallisierende tatsächliche "revolutionäre Potential" der Situationistischen Internationale: "Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen, und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt", so Debord, "dass die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind."

Möchte man die Situationistische Internationale heute also tatsächlich "ernst nehmen", muss man ihren Zeitkern retten, ihre Schwächen bloßlegen. Die Infragestellung aller Aspekte kapitalistischer Vergesellschaftung, die im wilden Generalstreik im Juni 1968 in Frankreich aufgeschienen und an der die SI maßgeblich beteiligt war, ist heute wenig zeitgerecht. Stattdessen ist es die zeitgenössische Kunst, die an die Situationisten anknüpfen könnte, insofern in der Kunst heute (wieder) vermehrt Situationen hergestellt werden, die auf das Leben als soziales Konstrukt zielen. Leider hat sich die Publikation zu verbissen an das antiquierte "revolutionäre Potential" gehalten und damit ungewollt doch zu einer Archivierung und Musealisierung Debords und seiner Gruppe beigetragen. "Die Revolution ist aufs Neue zu erfinden - das ist alles", wusste Debord. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.


Titelbild

Stephan Grigat / Johannes Grenzfurthner / Günther Friesinger (Hg.): Spektakel-Kunst-Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale.
Verbrecher Verlag, Berlin 2006.
250 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3935843615

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