"Soll das jetzt biographisch werden? Oder wie?"

"Es leben die Illusionen" in den Gesprächen zwischen Peter Hamm und Peter Handke, sie sterben anderswo

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klappentext und Vorbemerkung zu "Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo" bauen hohe Erwartungen auf: Peter Hamm wünscht sich, dass die von ihm geführten Gespräche mit Peter Handke als Ergänzung und als Erweiterung des berühmten Gesprächs zwischen Herbert Gamper und Peter Handke gelesen würden, das 1987 unter dem Titel "Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen" erschienen ist. Im Klappentext heißt es, die Voraussetzungen für ein Gespräch zwischen Schriftsteller und Interviewer seien "geradezu ideal", weil Peter Hamm und Peter Handke sich über vierzig Jahre kennen und eng befreundet sind. Hamm öffne als kenntnisreicher Leser einfühlsam einen Gesprächsraum, den Handke in ungekannter Offenheit ausschreite. Mit den Gesprächen würde gar sichtbar, was Literatur heute sein kann.

"Es leben die Illusionen": Hamm schafft es leider in keiner Sekunde, auch nur annähernd an die Höhe und Intensität des Gesprächs zwischen Gamper und Handke heranzukommen geschweige denn anzuknüpfen. Was sich als "ideal" ankündigte, entpuppt sich als ein Problem. In seiner Vorbemerkung schreibt Hamm, dass das vorbildhafte Gespräch zwischen Gamper und Handke "trotz" Gampers starker Vorbehalte gegenüber dem Werk Handkes gelungen sei. Womöglich hätte hier statt "trotz" "wegen" geschrieben werden müssen. Hamm scheint jedenfalls viel zu nah an Handke und seinen Büchern zu sein, als dass sich ein Zwischenraum für eine Gesprächsöffnung ergeben könnte. Zudem steht Hamms Literaturbegriff einem interessanten Gespräch ständig im Weg; selbst Handke muss wiederholt darauf hinweisen, dass zwischen Protagonistenleben und Autorbiografie ein Unterschied zu machen ist: "Aber, lieber Peter, das ist ja alles Fiktion."

Doch Hamm lässt sich von seinem Weg nicht abbringen. Für ihn sei beides, Biografie und Text, eben "unauflöslich ineinander verwoben" und wenn es beispielsweise in Handkes Aufzeichnungen einmal über Jugoslawien heiße: "das mir das wirklichste Land in Europa bedeutete", dann müsse das ja einen Grund haben und müsse/dürfe doch so genommen werden, wie es geschrieben steht. Also handelt "Mein Jahr in der Niemandsbucht" von der Vorstadt von Paris, in der Handke wohnt - obwohl Hamm nur kurz zuvor im Gespräch erfahren musste, dass Handke beispielsweise das Erlebnis des Karsts nach dem Abitur in "Die Wiederholung" fingiert hat. Also gibt es so viele Busfahrten in Handkes Büchern, weil Handke täglich mit dem Bus von zu Hause ins Gymnasium nach Klagenfurt und zurück fahren musste.

An "Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen" ist faszinierend, wie sich im Gespräch die Themen entwickeln, wie Gamper vor allem aus dem Gespräch heraus die Fragen stellt, wie sich die beiden Gesprächspartner gegenseitig auf die Sprünge helfen, auf neue Begriffe bringen, wie sie gemeinsam auf die Suche nach einem Verständnis gehen, wie sie sich gemeinsam in die Begriffe vergraben, sie von einer Seite auf die andere Seite drehen. Vor allem bleibt immer klar, worum es geht: um die Literatur von Peter Handke und die Arbeit eines Schriftstellers.

Bei Hamm ist irgendwann gar nichts mehr klar. Man weiß nicht, worum es geht, was das Ziel der Gespräche ist. Dabei ist der neue Gesprächsband viel kürzer als der alte, wäre gerade hier eine Fokussierung auf einzelne Aspekte notwendig gewesen. Stattdessen ergibt sich eine Art Rundumschlag von Handkes Weltanschauungen, denen man oft kaum folgen kann. Die meiste Zeit startet Hamm dabei von einzelnen Sätzen, die er ja wirklich sehr kenntnisreich aus verschiedenen Büchern Handkes zitiert, und bittet um Kommentar - aber als seien es Aussagen Handkes über sich selbst, zu denen er noch mal Stellung beziehen soll. So reiht sich Block an Block, zwischen denen sich kaum ein Zusammenhang ergibt. Hier öffnet sich wenig. Viel zu selten knüpft Hamm direkt an Handkes Antworten und Ausführungen an. Stellt sich einmal ein gewisser Gesprächsfluss ein, wird dieser immer wieder abgebrochen, weil Hamm - alles andere als "einfühlsam" - eine vorgefertigte Frage anreiht.

Beispielsweise fragt Hamm nach dem Wort "Leere", das für ihn "ein Schlüsselwort" im Werk Handkes sei, zitiert zwei Stellen und würde dazu "gern etwas hören", was Handke meint mit "Leere". Handke beginnt seine Antwort wie folgt: "Das hat mich einmal auf den Sprung gebracht. Eine gewisse Leere, nicht jede, eine gewisse. Oder eine ungewisse, eine ungewisse Leere bringt einen auch auf den Sprung." Handke kommt von diesen Sätzen dann auf die mystische Wüste von Juan de la Cruz und auf Teresa von Ávila, von dort auf das Materielle, auf die Verbindung von Mystik und Materie, dann auf die Psychoanalyse Freuds, denn die Psyche sei bei Teresa von Ávila in gewisser Weise viel genauer beschrieben als bei Freud. "Das zur Leere." Für denjenigen, der sich dieser Leere aussetze, so Handke weiter, ließe sich nichts so geometrisch, anthropologisch, anthropomorph gliedern wie die Leere. Und wer diese Leere nicht kenne, der solle lieber nichts lesen. Nach einer Zwischenfrage Hamms, der auf das Sich-leer-Fühlen verweist als einen anderen Begriff von "Leere", spricht Handke über Sokrates und die platonischen Dialoge, kommt von da zu Wittgenstein und zum aktiven Schweigen. Dieser Parforceritt über vier Seiten wird dann so stehen gelassen und abgebrochen, weil Hamm anknüpft: "Zu Spanien interessiert mich noch etwas..."

Neben vielen Fragen stellt sich da die Frage, ob Hamm das Gamper-Gespräch eigentlich gelesen hat? Dort wird ausführlich, auf mehr als zwanzig Seiten, über die "Leere" nachgedacht, die mindestens seitdem als ein wichtiger Begriff in Handkes Werk bekannt ist. Die gemeinsame Suche von Gamper und Handke führt dabei von der Namenlosigkeit, der Beziehung zwischen Wort und Ding, zwischen Literatur und Geschichte über die Wiederholung, über Rand und Schwelle zum Schweigen, zur Stille, zu Problemen der Form, zum Möglichkeitsraum der Literatur. Diesen Ausführungen kann man bestens folgen, sie stecken in herausragender Weise Horizonte des Handke'schen Werks ab, sodass sie bis heute eine reichhaltige Quelle für die Beschäftigung mit Handkes Büchern darstellen.

In "Es leben die Illusionen" stirbt bereits nach wenigen Seiten der Lektüre zunehmend die Hoffnung, aus diesem Buch irgendetwas mitnehmen zu können, irgendetwas, womit man etwas anfangen könnte. Es ist eine unglückliche Publikation, die Handke einen Bärendienst erweist. Wenn der Rhythmus dieses Buches tatsächlich, wie es im Klappentext heißt, das sichtbar werden lassen sollte, was Literatur heute sein kann, dann kann man entweder dieses Vor-Urteil mit Otto Waalkes lesen, der waschkörbeweise Fanpost bekommt - toll, was für kleine Waschkörbe es heutzutage gibt! - oder den Literaturbetrieb einstellen.


Titelbild

Peter Handke / Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
184 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3835300407

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