Von der Unmöglichkeit der Schrift, entziffert zu werden

Peter Höfle auf der Suche nach Kafkas Erzählform

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Notiz zu seinen Thesen "Über den Begriff der Geschichte" fordert Walter Benjamin emphatisch die "Liquidierung des epischen Elements". Erinnerung, geschichtliche wie literarische, versteht er als Absage an geschlossene, kontinuierliche Repräsentation. Die Erinnerung kann nur im Modus einer spezifischen Unerzählbarkeit bewahrt werden. Eine solche Theorie erinnernden Erzählens als Kenntlich-Machen eines Zerfalls des erinnernden Fortlebens liegt - wie Benjamin bereits 1934 hervorhob - auch den Erzählungen Franz Kafkas zugrunde.

Erinnert wird hier kein tradiertes Wissen mehr, sondern nur noch die bloße Struktur einer Tradierbarkeit, die unabhängig von aller Inhaltlichkeit den kommunikativen Rahmen für Austausch und Überlieferung vorsieht. Entsprechend ist die ästhetische Moderne geprägt von der Unverfügbarkeit dieses Rahmens und - damit einhergehend - von einer Tendenz zur Unerzählbarkeit. Das von der Negativität seiner Geschichte gezeichnete Material, dessen Zeichen zu entziffern keinem Interpreten je gelingen wird, ist die von Kafka mehrfach benutzte Metapher, mit der er sein Verhältnis zur Geschichte und zur Tradition beschreibt. Mit dem in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff der "westjüdischen Zeit" (so in einem Brief an Max Brod vom Januar 1918) reflektiert Kafka den Zustand einer von Überlieferung und Erinnerung der jüdischen Kultur und des Wissens in toto abgetrennten Zeit, in der Kategorien wie Identität, Geschichte oder Tradition prinzipiell nur noch ex negativo - als Aufschub oder différance - rezipierbar sind.

Wenn Kafkas Erzählkunst überhaupt auf eine Kategorie reduzierbar ist, dann sicherlich auf die Kategorie der Allegorie im Sinne Benjamins, nach der literarische Texte a priori unvollendet, fragmentarisch sind. Für Kafka verweist das immer unvollendet bleibende literarische Werk auf die utopische Einheit von Schönheit und Wahrheit, die in der brüchigen Konstitution der Moderne nur noch im status oblivionis als unerfüllbare Hoffnung existiert.

Die "Negierung der Erzählbarkeit" in Kafkas Werk ist Ausgangspunkt der Dissertation Peter Höfles, der die spezifische Ausprägung von Kafkas Erzählungen als "aufbauende Zerstörung" ihrer Form (Oktavhefteintrag aus dem Frühjahr 1918) und damit im wesentlichen konträr zu einer vor allem vom Herausgeberstab der Kritischen Ausgabe initiierten Forschungsrichtung deutet, die sich mehr einer Rekonstruktion der Verlaufsgestalt von Kafkas Erzählungen als ihren eigentlichen Interpretationen widmet. Gefragt wird in einem ersten Teil der Arbeit, zunächst unabhängig von Kafka, "wie narrative Texte funktionieren und wie sie ihre Spannung erzeugen". Da Höfle nicht eigentlich mit einer Erzähltheorie, sondern mit einer "handlungstheoretische[n] Fundierung des Fiktionsbegriffs" arbeitet, "die die Erzählhandlung und die erzählte Zeit mit der durch sie angestoßenen Rezeptionshandlung in Beziehung setzt", geraten hier verstärkt die Arbeiten von Ricoeur, Hamburger, Danto, Forster oder Weinrich und nicht etwa die Untersuchungen von Lämmert, Stanzel und Genette in den Blick. Der zweite Teil der Arbeit versucht das zuvor entwickelte Fiktionalitätskonzept mit dem Zaubermärchen und der Zaubersage als "Grenzformen des Erzählens" zu verzahnen, was allerdings nur leidlich gelingt.

Erst der dritte und letzte Teil der Untersuchung bemüht sich um eine Hinführung auf das Werk Kafkas. Ohne Frage liegen hier die Stärken der Untersuchung. Kenntnisreich und weithin überzeugend verortet Höfle die Thematik von Erinnern und Vergessen als Parameter einer "Poetik des Mangels" in Kafkas gesamtem Schrifttum, wobei sich die "Narrativität von Kafkas Erzählungen [...] nicht allein innerhalb einzelner Texte, sondern auch im Enjambement zwischen einzelnen 'Schriftträgern'" entfaltet: "Sie sind immer beides: 'erzählender' Text und 'besprechender' Kontext, Geschichte und unmittelbares Geschehen des Textes als Ereignis."

Die "Unfähigkeit zu schreiben" korrespondiert dabei mit einer Unfähigkeit, "historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher wenigstens zu ahnende Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter abbrechend", wie Kafka in einer Tagebuchnotiz vom 13.1.1920 vermerkt. Höfle gelingt es zu zeigen, daß vom 'Sirenentext' bis hin zur 'Josefine' die Texte im Erzählen das Überlieferte auslöschen, indem sie es überliefern. Dieses Erzählverfahren Kafkas bringt die "Kette der Geschlechter" zum Abreißen, die "Musik der Welt" zum Verstummen und läßt "Schrift" nur noch ex negativo "entziffern", weil es auf die Dialektik von der Erstellung eines Textes und seiner notwendigen Zerstörung durch die Interpretation rekurriert: "An die Stelle eines Zusammenhangs, der narrativ faßbar wäre, tritt die Interpretation, die deshalb ein 'Scheinvorgang' bleibt, weil durch sie die Notenschrift des Textes nicht zum Klingen gebracht, sondern lediglich ihr Schweigen hörbar gemacht wird."

Höfles anregender, bisweilen jedoch zu stark textimmanter Lektüre entgeht allerdings, daß die Erfahrung der Diskontinuität und der Atomisierung sowie die Figuren des Traditions- und Überlieferungsbruchs zwar fraglos Allgemeingut in den Reflexionen der philosophischen und literarischen Moderne sind, nicht zuletzt aber in vielfältiger Weise besonders dem deutsch-jüdischen Denken der Moderne eingeschrieben sind, einem Denken, das sich über die Dialektik von Erinnerung und deren Unterbrechung in den Texten Kafkas erheblichen Raum verschafft hat.

Titelbild

Peter Höfle: Von der Unfähigkeit, historisch zu werden. Die Form der Erzählung und Kafkas Erzählform.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
317 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770533348

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