Warum der Mensch etwas Besonderes ist

Einige evolutionsbiologische Aspekte

Von Karl EiblRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Eibl

"Und Gott der HERR machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele." (1 Mos 2,7) Diese alte Geschichte gibt knapp und schmeichelhaft Auskunft über die Stellung des Menschen in der Natur, aber sie wird in der Regel nur am Sonntag erzählt. Die andere, neuere und werktagsgeeignete Geschichte trägt so unangenehm plärrende Titel wie "Der nackte Affe" oder "Der dritte Schimpanse" oder "Von Menschen und anderen Tieren". Sie hat zwar einige Plausibilität, wenn wir das Verhalten unserer Mitmenschen ansehen, aber uns selbst und ein paar Freunde würden wir gerne ausnehmen, sprechen deshalb lieber von Bewusstsein, Emanzipation von Naturzwängen, Emergenz und ähnlichen schwer definierbaren Kostbarkeiten, die uns letzten Endes doch eine Sonderstellung im Kosmos sichern sollen. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Auch der Elefant ist nicht irgendein Dahergelaufener, und wenn er sprechen könnte, würde er uns vielleicht ärgerlich versichern, dass auch er eine Sonderstellung im Kosmos hat. Eigentlich ist jede Gattung oder Art etwas Besonderes, sonst könnten wir sie ja nicht von anderen unterscheiden. Die Frage ist eher, ob das Besondere des Menschen ein besonders Besonderes, ein ganz Anderes ist. Um das beurteilen zu können, muss man erst einmal wissen, worin dieses Besondere des Menschen überhaupt besteht.

Soziobiologie und Evolutionäre Psychologie: Das Gemeinsame und das Besondere

Dazu muss ich aber gleich eine kleine Vorbemerkung machen. Was immer an Besonderheiten des Menschen namhaft gemacht wurde, Werkzeuggebrauch, Sprache, 'Bewusstsein', Lachen, Weinen, Selbstmord, Lügen und so weiter - irgendwo hat irgendjemand die Beobachtung gemacht, dass es das ansatzweise schon bei diesem oder jenem Tier gibt. Unter evolutionärem Gesichtspunkt ist das aber nicht sensationell, sondern erwartbar, denn irgendwo muss die Entwicklung ja immer ansetzen. Wenn jemand als Besonderheit der Gattung Elephas den Rüssel nennt, kann man ihm sogleich entgegenhalten, dass auch Hunde, Ratten, Menschen etc. einen Rüssel haben, ansatzweise. Das ist auch gar nicht falsch, und es ist sogar dann interessant, wenn ich mich als Elefantologe betätige, aber nur deshalb, weil ich auf diese Weise vielleicht einige Besonderheiten des Rüssels besser verstehe.

Das primäre Interesse am Gemeinsamen und das primäre Interesse am Besonderen: Das ist ungefähr das Verhältnis von Soziobiologie und Evolutionärer Psychologie. Soziobiologie und Evolutionäre Psychologie sind Produkte der amerikanischen Wissenschaftsszene und haben das Erbe der 'deutschen' Vergleichenden Verhaltensforschung angetreten. Wie es dazu kam, wäre lohnender Gegenstand einer wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudie, tut aber hier nichts zur Sache.

Jedenfalls hat die Soziobiologie in den 1970er-Jahren großes Aufsehen erregt und ist zum Paradigma einer biologischen Sicht des Menschen schlechthin geworden. Dabei kann man zwei Charakteristika namhaft machen. Das erste ist die biologische Erklärung von Kooperation und 'altruistischem' Verhalten. Die ältere Verhaltensforschung sah Kooperation in einem Arterhaltungstrieb begründet. Dieser Trieb war eine Bastion der Vorstellung vom 'guten Tier', das man dem Menschen zum Vorbild empfehlen konnte. Nur war der Arterhaltungstrieb evolutionsbiologisch nicht zu erklären, blieb ein Postulat von fast mystischer Größe. Denn angenommen, es gibt in den Lebewesen einen Trieb, das Interesse der Art oder der Gattung über das eigene zu stellen: Wie soll dieser Trieb entstanden sein und erhalten werden, da Individuen, die ihm folgen, im individuellen Konkurrenzkampf unterlegen sind, folglich eine geringere Fortpflanzungsrate haben als die 'Egoisten'? Die Soziobiologie stellte um von der aufs Individuum bezogenen Betrachtungsweise auf eine genbezogene: Wenn ich mich für meinen Bruder opfere, unterstütze ich auch 'meine' Gene, denn mein Bruder hat die Hälfte der Erbsubstanz mit mir gemeinsam; und damit unterstütze ich natürlich auch das 'Opferungsgen'. Diese Umstellung eröffnete einen riesigen Bereich an Folgeforschungen und -überlegungen.

Das zweite Charakteristikum der Soziobiologie bestand darin, Homologien und Analogien zwischen menschlichem und tierischem Verhalten aufzudecken. Als Homologien bezeichnet man Übereinstimmungen von Organen auf Grund gemeinsamen Ursprungs (also Nase und Rüssel), als Analogie gleiche Funktion bei unterschiedlichem Ursprung (also Flügel von Insekten und Vögeln). In jeden Fall ist es das Ziel, die 'Familienähnlichkeit' tierischen und menschlichen Verhaltens aufzuweisen. Da gibt es nun freilich die Neigung, über das Ziel hinauszuschießen und publikumswirksam Gemeinsamkeiten mittels sprachlicher Tricks herzustellen. Dass manche Soziobiologen lieber 'tierlich' als 'tierisch' sagen, um ihre Lieblinge etwas näher ans 'Menschliche' heranzurücken, mag man als liebenswürdige Schrulle hingehen lassen. Problematischer ist die Neigung, Differenzen durch Anthropomorphismen einzuebnen, zumal wenn diese ethischer Art sind. Ein amerikanischer Insektenforscher konnte große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als er bestimmte Kopulationsformen im Tierreich (zum Beispiel der Skorpionsfliege, Panorpa communis) unter den juristisch-moralischen Begriff der Vergewaltigung fasste und damit entsprechende Rückschlüsse auf die 'Natürlichkeit' von menschlicher Vergewaltigung provozierte. Zuweilen wird auch das Rad des Pfaus als 'ehrliches Signal' seiner guten Gene bezeichnet, obwohl es doch nur ein (leidlich) zuverlässiges Indiz ist, und den Genen wird 'Egoismus' zugeschrieben, weil sie sich unablässig vermehren 'wollen'. Aber solche Unarten sollten nicht den Blick darauf verstellen, dass der Blick auf das Gemeinsame unentbehrlich ist, wenn man den Blick aufs Besondere schärfen will.

Dieses 'Besondere' des Menschen hat die Evolutionäre Psychologie im Blick, die sich zu Beginn der 90er-Jahre aus der Soziobiologie ausdifferenziert hat. Sie teilt zwar die meisten Grundannahmen der Soziobiologie. Gegner der biologischen Perspektive werfen deshalb beide gern in einen Topf, weil sie auf diese Weise die Einwände gegen die eine auch gleich als Einwände gegen die andere anführen können, und auch die Verfechter trennen nicht immer, weil es sich tatsächlich um zwei Perspektiven derselben Sache handelt. Indem die Evolutionäre Psychologie aber die Erkenntnisse der Soziobiologie benutzt, um spezifisch menschliches Verhalten zu erklären, geraten auch andere Sachverhalte in den Blick.

Das EEA und die aktuelle Umwelt

EEA, das ist das Environment of evolutionary adaptedness, 'Umwelt der Angepasstheit'. Der Begriff ist schon ein paar Jahrzehnte alt, stammt von dem Psychoanalytiker John Bowlby. Gemeint ist damit die Umwelt, unter deren Selektionsdruck eine bestimmte Adaptation entstanden ist. Bei den meisten Lebewesen ist das die Umwelt, in der sie auch heute leben. Für die Antilope ist es die tropische Steppe mit ihrem Klima, ihrem Bewuchs und ihren sonstigen Bewohnern, für den Schimpansen der tropische Wald und für den Eisbären die Arktis. Wo die Umwelt sich verändert hat, sind die betreffenden Arten entweder ausgestorben oder sie haben sich passend verändert. Diese Identität von EEA und aktueller Umwelt macht es auch vergleichsweise einfach, den Selektionsdruck ausfindig zu machen, dem diese Lebewesen ihre Eigenschaften verdanken.

Beim Menschen ist das anders. Zeitweise wurde von der Soziobiologie zwar auch die genetische Ausstattung des Menschen auf seine gegenwärtigen Umwelten bezogen. Aber seit Beginn der 1990er-Jahre wurde diese Auffassung stark zurückgedrängt und dient heute zumeist nur noch als Dummy für die Gegner der biologischen Perspektive. Der Mensch, so lautet heute die Einsicht, verdankt seine Adaptationen einer Welt, die in vieler Hinsicht ganz anders war als die unsrige. Man vermutet, dass es vor etwa 300.000 bis 200.000 Jahren in Afrika zur Entstehung des homo sapiens kam. In den letzten 100.000 Jahren verbreitete sich diese Art dann über die ganze Erde, und so kann man schließen, dass die wichtigsten gemeinsamen Eigenschaften dieser frühen Zeit entstammen. Danach sind nur noch regionale Entwicklungslinien denkbar, etwa die Entstehung weißhäutiger Menschen in sonnenarmen Gegenden. Wichtig - und gelegentlich unterschätzt - war aber dann noch die neolithische Revolution, die vor 10.000 Jahren einsetzte, das heißt das Sesshaftwerden in Dörfern, die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht. Zwar gab es da wahrscheinlich keinen weltweiten Gen-Austausch mehr, aber die weltweit ähnlichen Problemlagen insbesondere des enger gewordenen sozialen Lebens förderte gewiss auch 'analoge' Entwicklungen als Antwort. Die letzten gewaltigen Veränderungen der Umwelt, die mit der Entstehung der Moderne einhergehen, sind ein Prozess von nur wenigen Jahrhunderten, von dem die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen überdies erst relativ spät ergriffen wurde. Eine Rückwirkung aufs Erbgut ist da erst in jüngster Zeit zu beobachten, etwa durch verstärkten Gen-Austausch zwischen verschiedenen Populationen, durch die Möglichkeit, einige einstmals meist tödliche Erbkrankheiten wie etwa Hämophilie wenigstens individuell zu beherrschen, und neuerdings durch die Möglichkeit eines direkten Eingreifens ins Erbgut, auf das viel Hoffnung gesetzt wird. Im Wesentlichen sind wir also ein Produkt der Altsteinzeit mit einigen neolithischen Zutaten, hineinversetzt in die industriell-städtische Welt.

Dass wir diese Welt selbst geschaffen haben, wird zuweilen so verstanden, als ob wir uns von der biologischen Evolution emanzipiert hätten und diese mithin keine ernstzunehmende Rolle mehr spiele. Aber das ist eine allzu kurzschlüssige und auch leichtfertige Vereinfachung der Verhältnisse. Dass der alte Adam weiterhin in uns steckt, ist für jeden aufmerksamen Beobachter auf Schritt und Tritt wahrnehmbar, und sei es nur als Knirschen, weil Adaptation und Umwelt nicht immer so richtig passen wollen. Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat das in die Alarmformulierung gepackt: "Menschen mit der Motivationsstruktur und intellektuellen Kapazität eines altsteinzeitlichen Jägers und Sammlers steuern heute Düsenjäger!" Ich gestehe, dass mich die Piloten weniger beunruhigen als ihre Befehlshaber.

Anderseits ist die moderne Kultur aber nichts völlig Fremdes. Sie ist Schritt für Schritt von diesem Steinzeitmenschen selbst geschaffen worden, das heißt angeleitet von seinen Wünschen und auf einem Korridor, der letztlich durch seine Stresstoleranz gerahmt war. Zeugnis geben die menschenleeren Ruinen von Hochkulturen im Urwald oder am Wüstenrand, und in die gleiche Richtung weisen verwahrlosende Innenstädte und sich füllende Wartezimmer der Psychotherapeuten. Oder, ganz langsam unspektakulär, der Bevölkerungsrückgang in scheinbar prosperierenden Gesellschaften. Gelegentlich wird die Entwicklung der technischen Welt so gefeiert, als sei die biologische Evolution zu Ende und an ihre Stelle sei eine Art geistiger Evolution getreten. Daran ist nur so viel richtig, dass eine neue Rückkopplungsschleife mitwirkt. Auch die selbstgeschaffene Umwelt (die Kultur) hat Selektionswirkung und vernichtet ihre unangepassten Bewohner. Aber wenn diese von Menschen geschaffene Umwelt ihre Bewohner vernichtet, vernichtet sie auch sich selbst, soweit diese Bewohner auch ihre Erschaffer sind, so dass letztendlich die Umwelt und die Spezies aneinander angepasst bleiben - mit entsprechenden individuellen Opfern in den Grenzbereichen.

Immerhin, da es sich um selbstgeschaffene Umwelten handelt, nicht um die Welt, in der völlig ungeplant Vulkane ausbrechen oder das Klima sich wegen irgendwelcher unbeeinflussbarer Faktoren ändert, besteht auch eine gewisse Chance, dass der planende Erschaffer selbst rechtzeitig etwas merkt und umlenkt. Im Kleinen, also wenn man zum Beispiel unangepasst gekleidet ist, geht das. Im Großen werden vielleicht die Dimensionen, für die uns die Evolution ausgerüstet hat, überschritten.

Ein Beispiel

Soziobiologen und Evolutionäre Psychologen nehmen ihre Beispiele häufig aus dem Bereich der Geschlechterdifferenz, um heutige Präferenzen aus steinzeitlichen Adaptationen zu erklären. Das ist nicht immer einschmeichelnd, zumal es gelegentlich auf eine Bestätigung dessen hinausläuft, was man am Wirtshaustisch schon immer gewusst hat. Man müsste erst viele Wenns und Abers hinzufügen, die dann doch nicht gelesen werden.

Ich nehme lieber ein geschlechtsneutrales Beispiel. Vor gut hundert Jahren entdeckte Edward Westermarck den später so benannten Westermarck-Effekt. Bezeichnet wird damit der Sachverhalt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit länger eng und vertraut zusammengelebt haben, wie etwa Geschwister, keine sexuelle Anziehungskraft füreinander besitzen. Da solche frühe Vertrautheit in der Regel zwischen Blutsverwandten herrscht, ist das ein Mechanismus zur Vermeidung von Inzuchtschäden. Solche Mechanismen der Inzestvermeidung sind auch im Tierreich weit verbreitet. Für den Mainstream der Ethnologie aber war es Dogma, dass das 'Inzest-Tabu' eine rein kulturelle Einrichtung sei. Man zeigte auf, welche demografischen, ökonomischen und ökologischen Vorteile die Exogamie gegenüber der Endogamie bietet. Hinzu kam die Behauptung Sigmund Freuds und seiner Schule, dass tief in uns Inzestwünsche nisteten, die wir nur unter Kultureinfluss verdrängt hätten, woraus angeblich wiederum allerlei Neurosen und Sublimationen entstünden. Standardargument war, dass das kulturelle Inzestverbot ja nicht nötig wäre, wenn es eine natürliche Inzestbarriere gäbe. Unausgesprochene Voraussetzung für die Akzeptanz dieses Arguments ist aber die Vorstellung eines Natur-Kultur-Antagonismus, die Vorstellung also, kulturelle Regeln seien nur zur Unterdrückung der Triebe nötig, sie seien geradezu ein Beweis für das Vorhandensein dieser Triebe. Das ist aber ein Irrtum. Tatsächlich handelt es sich bei der kulturell geregelten Inzestvermeidung um einen Musterfall dafür, wie eine biologische Disposition kulturell genutzt wird, denn die Ermittlungen des vielfältigen kulturellen Nutzens solcher Heiratsregeln sind ja durchaus triftig. Nur die Alternativstellung ist ein Fehler.

Allerdings gibt es da noch ein Problem: Die Kulturen definieren manchmal recht eigenwillig, was als Blutsverwandtschaft im Sinne des Westermarck-Effekts einzuschätzen und mit entsprechenden Heiratsverboten zu belegen ist. Ruth Benedict erzählt von den Kurnai in Australien, die Heiratsvorschriften seien dort so streng, dass den Paaren nichts anderes übrig bleibe als davonzulaufen. Obwohl auch alle anderen Ehen auf diese Weise zustande kommen, herrscht helle Empörung, die beiden werden verfolgt und getötet, wenn es ihnen nicht gelingt, eine bestimmte Insel zu erreichen, die als Asyl dient. Wenn sie schließlich mit einem Kind gesegnet zurückkehren, werden sie kräftig verprügelt und dürfen dann als Ehepaar leben wie die anderen, die vorher ausgerissen waren.

Um auch ein Gegenwartsbeispiel anzuführen: In einem Betrieb, in dem Männer und Frauen zusammen arbeiten, könnte es eigentlich zugehen wie in Sodom und Gomorrha (in Gazetten, die man nur beim Zahnarzt liest, wird das auch gelegentlich so dargestellt). Aber durch Gewohnheit und Regeln werden Betriebe jedenfalls in dieser Hinsicht zu einer Art Familie zurechtdefiniert. Die Westermarck-gestützte Maxime "Don't fuck the factory" wird zwar nicht lückenlos befolgt, sorgt aber doch ganz zwanglos dafür, dass die zwischengeschlechtlichen Aktivitäten kein betriebsstörendes Ausmaß annehmen.

Und um die volle Weite der Variabilität der Einsatzmöglichkeiten um einen harten Kern zu illustrieren, sei auch noch auf das alte Drama von Ödipus hingewiesen. Auf den Gedanken, hier drücke sich der Wunsch eines jeden Mannes aus, mit seiner Mutter zu schlafen, konnte man nur im raffinierten Wiener Milieu um 1900 kommen. In anderen, einfacher gestrickten Milieus aber erweckt dieses Geschehen nur Abscheu, verbunden mit Mitleid und Furcht, Jammer und Schauder darüber, dass Menschen so etwas Entsetzliches zustoßen kann. Entsetzlich ist es aber nicht wegen eines kulturellen Inzesttabus, sondern wegen einer angeborenen Abscheu vor dem Inzest (die natürlich auch kulturell gestützt wird).

Die drei Fälle mögen illustrieren, wie sich eine biologische Disposition fern von ihrem Entstehungsmilieu auf höchst unterschiedliche Weise realisieren und die alte Determinationskraft in neue Zusammenhänge einbringen kann. Im ersten Fall werden die zerstörerischen Verstrickungen, zu denen die kulturellen Festlegungen einer biologischen Disposition führen können, schließlich durch eine gegenwirkende Disposition aufgelöst, die wir hier einfach Liebe nennen wollen. Im zweiten Fall wird die alte Disposition mit einer neuen Auslöserdefinition versehen und kann (ähnlich wie die Umdefinition von Brüdern und Schwestern im politischen Bereich) zum Funktionieren moderner Institutionen beitragen. Im dritten Fall wird das Erregungspotential in den Seelen der Zuschauer stimuliert und als Bestandteil eines ästhetischen Erlebnisses aktiviert.

So viel zur Differenz von EEA und aktueller Verhaltenssituation und zu den Variationen, die diese Differenz aufweisen kann. Wie aber ist es überhaupt möglich, dass das EEA und die aktuelle Umwelt so weit auseinander liegen können?

Entkoppeln und Vergegenständlichen

Es gibt dafür schon seit über 60 Jahren einen Vorschlag, der allerdings nicht unproblematisch ist. Arnold Gehlen hatte damals die These vertreten, dass der Mensch ein instinktreduziertes Mängelwesen sei. Zwischen Antrieb und Handlung liege bei ihm eine Lücke, der 'Hiatus', und in dieser Lücke konnte man dann beliebig viele Spezifica des Menschlichen ansiedeln, Reflexion, Sprache, Probehandeln, alles, was wir landläufig unter Kultur verstehen. Entsprechend war Gehlen eine wichtige Adresse aller Kulturalisten, die hier einen 'biologischen' Gewährsmann für ihr Desinteresse an Biologie namhaft machen konnten. Nur war die Biologie des Antidarwinisten Gehlen keine sehr gute Biologie und schon damals in einer Außenseiterposition. Man wird heute (wenn man sich überhaupt auf Quantitäten einlässt) eher von einer Überfülle von Instinkten sprechen, wie das übrigens schon William James tat, und von speziellen Koordinations- und Entscheidungsproblemen, die daraus entstehen und für die in der Tat die Kultur wichtige Bewältigungsmittel bereitstellt. Was aber jedenfalls festgehalten werden kann, ist die Beobachtung, dass die Menschen häufig nicht einfach nach dem Schema von Reiz und Reaktion handeln, sondern dass dieser Automatismus, wie Gehlen sagt, 'abgehängt', und wie die Evolutionären Psychologen sagen: 'entkoppelt' werden kann.

Leda Cosmides und John Tooby, die beiden theoretisch raffiniertesten Köpfe der Evolutionären Psychologie, haben dargelegt, dass in dieser Fähigkeit des Entkoppelns das Spezifikum menschlicher Problembehandlung liegt, und zwar haben sie speziell den Umgang mit Informationen unter diesem Gesichtspunkt erörtert. Indem wir eine zweite Ebene in unseren Informationshaushalt einziehen, eine Ebene der Meta-Informationen, gewinnen wir die Möglichkeit, riesige Mengen an Informationen zu verwalten, ohne dass diese direkt auf unser Handeln Einfluss nehmen. Wir können vermerken, wo eine Information gilt, wann sie gilt, von wem sie stammt (und wie zuverlässig sie damit ist), wie häufig sie relevant ist, welche Informationen eventuell konkurrieren und so weiter. Jede Information kann sozusagen mit einem kleinen gelben Klebezettel, einem Tagging, versehen werden, der über die Bedingungen ihrer Gültigkeit informiert. Ich lasse Cosmides und Tooby selbst zu Worte kommen:

"So kommt es, daß die Menschen mit und in großen neuen Bibliotheken von Repräsentationen leben, die nicht einfach als wahre Informationen gespeichert werden. Es sind die neuen Welten des 'Das könnte wahr sein', 'Das ist woanders wahr', 'Das war einmal wahr', des 'Was andere glauben, sei wahr', des 'Wahr nur, wenn ich das tue', des 'Nicht wahr hier', des 'Was andere wollen, daß ich glaube, sei wahr', des 'Das wird eines Tages wahr sein', des 'Sicher ist es nicht wahr', des 'Was er mir erzählt hat', des 'Es scheint wahr auf der Basis dieser Behauptungen', und so weiter und so weiter. Zur adaptiven Anwendung dieses neuen Typus von Informationen benötigte die Evolution einen großen Satz von spezialisierten kognitiven Anpassungen. Zum Beispiel war die Evolution neuer Informationsformate auf der Basis dessen, was wir Bereichssyntax ('scope syntax') nennen, nötig, die die Grenzen markieren und leiten, innerhalb derer ein bestimmtes Bündel von Repräsentationen sicher für Schlussfolgerungen oder Handlungen eingesetzt werden kann oder nicht."

Wenn man denn die erbauliche Formel von der Emanzipation des Menschen von Naturzwängen mit einem passablen Inhalt füllen möchte, dann wäre es diese Fähigkeit, Information und Reaktion dadurch zu entkoppeln, dass die Informationen einem eigenen Management unterworfen werden können (offline behandelt werden können, wie Ludwig Jäger das formuliert). Bei Tieren finden wir derlei natürlich auch, ansatzweise, nämlich beim tierischen Spiel, bei der Spielaufforderung des Hundes oder beim Spielgesicht des Affen, die die Metainformation geben: "Das ist Spiel (also nimms nicht ernst, wenn ich knurre)". Aber als Vorratssystem für Informationen wurde diese Fähigkeit des Taggings nur beim Menschen ausgebildet. Sie machte ihn zu dem Erfolgsmodell der Evolution.

Damit das Vorratssystem so gut funktioniert, wie es funktioniert, ist eine unerlässliche Voraussetzung die Sprachfähigkeit des Menschen. Gemeint ist nicht so sehr die Verbesserung der Kommunikationsleistung, die gleichwohl natürlich eine große Rolle spielt, sondern die Fähigkeit, mittels der Darstellungsfunktion der Sprache Vorstellungen zu vergegenständlichen und damit eine Zwischenwelt von hoher Flexibilität zu schaffen. Diese große Rolle der Darstellungsfunktion sah schon Karl Bühler, und ebenso Karl R. Popper.

Man kann zwar auch bei Tieren so etwas wie Sprache auffinden, ansatzweise mal wieder, und das ist jedenfalls ein wertvoller Hinweis darauf, dass auch diese Fähigkeit der Evolution entstammt. Doch Tiersprachen sind simultan trifunktional im Sinne des Bühler'schen Organonmodells, das heißt, die Signale sind Kundgabe, Appell und Darstellung gleichermaßen, und zwar so eng verschmolzen, dass die Rede von den drei Funktionen eigentlich nur als hypothetische Konstruktionen ex post anwendbar ist. Bekanntes, sehr gründlich beobachtetes Beispiel sind die Grünen Meerkatzen, bei denen man unterschiedliche vokale Warnungen vor Adlern, Leoparden und Schlangen mit unterschiedlichen Folgehandlungen ausgemacht hat. In unsrer Alltagskonversation sind zwar ebenfalls meist alle drei Funktionen am Werke, aber es gibt auch die Möglichkeit einer Sonderung und isolierten Verwendung der Darstellungsfunktion.

Man denke etwa an Lehrbücher oder Reallexika, die weitgehend emotionsfrei und meist auch ohne ausdrückliche Appelle die gewählten Sachverhalte darstellen. Die Isolierbarkeit der Darstellungsfunktion ermöglicht es, auch über Nichtanwesendes zu sprechen und die sprachliche Fixierung so weit zu verselbständigen, dass selbst Abstrakta oder frei erfundene Entitäten Gegenstandscharakter gewinnen. Und sie ermöglicht die Betätigung einer vierten Funktion, nämlich der von Popper u. a. so genannten Argumentationsfunktion, mit der die Gültigkeit von Propositionen erörtert werden kann. - Unvermerkt sind wir wieder bei der Scope Syntax angelangt. Denn Argumentationsfunktion und Metainformation gehören auf dieselbe Meta-Ebene.

Insgesamt hat das zur Folge, dass die Welt uns nicht mehr unmittelbar begegnet, sondern in sprachlich verarbeiteter Form, und dass wir auch nicht mehr auf 'wirkliche' Reize reagieren, sondern auf semantisch aufbereitete. Die Welt wird unserem Nervensystem sozusagen in semantisch gepufferter und interpretierter Form zur Verfügung gestellt. Die Zwischenwelt der Sprache (in einem weiten Sinn), die sich zwischen das seit Jahrhunderttausenden fast gleich gebliebene evolutionäre Erbe und die Veränderungen der Umwelt schiebt, könnte man als 'Kultur' bezeichnen. Sie ist nichts, was man sich als Mirakel denken muss, das auf mysteriöse Weise zur biologischen Natur des Menschen hinzugekommen wäre. Aber sie macht tatsächlich die Sonderart des Menschen aus und ist insofern nicht reduzierbar auf das Gemeinsame der Lebewesen.

Lektüreempfehlungen:

David M. Buss (Hg.): The Handbook of Evolutionary Psychology. Hoboken 2005

David M. Buss: Evolutionäre Psychologie. München u.a. 2004 (engl. 1999)

Eckart Voland: Grundriss der Soziobiologie. Frankfurt 2001

John Tooby und Leda Cosmides: "Consider the Source. The Evolution of Adaptations for Decoupling and Metarepresentations". In: Dan Sperber (Hg.): Metarepresentations. A Multidisciplinary Perspective. New York 2000, 53-116

John Tooby und Leda Cosmides: "Does Beauty Build Adapted Minds? Toward an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts". In: Substance. A Review of Theory and Literary Criticism. 94/95, Bd. 30, Nr. 1 und 2 (Special Issue: On the Origin of Fictions) 2001, 6-25. Deutsch: John Tooby und Leda Cosmides: "Schönheit und mentale Fitness. Auf dem Weg zu einer evolutionären Ästhetik". In: Uta Klein, Katja Mellmann, Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, 217-244

John Tooby und Leda Cosmides: "The Past Explains the Present. Emotional Adaptations and the Structure of Ancestral Environments". In: Ethology and Sociobiology 11 (1990), 375-423

John Tooby und Leda Cosmides: Evolutionary Psychology. A Primer. http://cogweb.ucla.edu/EP/EP-primer_contents.html

Vom Autor: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Mentis Verlag, Paderborn 2004