Ein ganz Gefährlicher

Das Whizzkid Uwe Nettelbeck ist tot, aber seine "Republik" lebt

Von Hermann BohlenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hermann Bohlen

Uwe Nettelbeck, der Schriftsteller, frühere Gerichtsreporter und Filmkritiker der "Zeit", legendärer Entdecker und Produzent der Krautrockband "Faust", ist letzte Woche in seinem 67. Lebensjahr gestorben. Er ist aus demselben Staub genommen wie wir alle und kehrt auch dahin zurück, so mancher Kulturkritiker und Übersetzer wird aufatmen. Aber zwischendruch war Uwe Nettelbeck ganz woanders und schon sehr früh, zum Beispiel mit 22 Jahren bei der "Zeit". Er war ein Senkrechtstarter, ein Whizzkid, ist dabei aber nicht verbrannt wie viele andere Frühbegabte, sondern wirkte mit voller Kraft und wachsender Erfahrung weiter bis zuletzt. Was der eigentlichen Entdeckung harrt: 29 Bände der von ihm größtenteils eigenhändig geschriebenen und mit seiner Frau Petra gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift "Die Republik", schätzungsweise 30.000 in fadengehefteten Bänden versammelte Seiten - während sein Anfang bei der "Zeit" seinerzeit soviel Aufmerksamkeit erregt hatte, dass selbst meine Großmutter noch in den 80er Jahren sich des Namens erinnerte: "Ganz Gefährlicher", sagte sie mir, als ich ihr berichtete, zwei Dörfer nördlich von Raven, in Luhmühlen, einen merkwürdigen Schriftsteller entdeckt zu haben, der da mit seiner Frau in einem ganz irren Haus wohne und praktisch völlig unbekannt sei, aber wahrscheinlich genial.

Seine erste und letzte Autobiografie hat Uwe Nettelbeck schon 1965 in einer Ausgabe der Zeitschrift "Filmkritik" geschrieben. Sie lässt ahnen, wieso die Gesellschaft mit diesem Mann von Anfang an ein Problem hatte, das mit seinem Schulabschluss nicht endete und für alle, die auch heute noch die "Republik" aufschlagen, wieder aktuell wird: "Von Sexta bis Quarta versuchte ich das Staatliche Humanistische Gymnasium in Lindau, ab Untertertia das Landerziehungsheim Schule Birklehof in Hinterzarten, wo ich mich bona fide konfirmieren ließ. Zum drittenmal wollte man mich die Obersekunda nicht machen lassen, so wurde ich wegen schlechter Zeugnisse (sieben Fünfer und eine Sechs) und renitenten Verhaltens der Schule verwiesen. Man steckte mich wieder zwischen die Lindauer Gymnasiasten, in die Untersekunda ungerechterweise. Nach ein paar Wochen und mehreren Direktoratsverweisen aber wurde ich wegen schlechter Leistungen und renitenten Verhaltens auch von dieser Schule verwiesen."

Die Tür einen Spalt weit offen

Nach Großmutters Warnung und der des Forstverwalters Zacharias, der im Vorbeifahren an diesem Haus immer nur zischte "Rote Bande", klingelte ich eines Morgens an dieser Tür, die sich nach einer langen Stille geräuschlos einen Spalt weit öffnete. Im Schummerlicht zu sehen war ein Mann im hellen Morgenmantel, mit einem von Vollbart unten und dunklen verwuschelten Haaren oben gerahmten Gesicht. Aus ihm blitzten zwei neugierige Augen. Als sie in mir einen harmlosen, bebrillten Abiturienten entdeckten, der nach alten Ausgaben der "Republik" suchte und Fragen die allerneuste betreffend auf einem kleinen Spiralblock notiert hatte, entspannte sich die Miene des Mannes. Ich wurde freundlich herein gebeten und erstmal mit einem Tee bedient. Damit hatte ich schon einen der größten Vorzüge des Hauses kennengelernt: die Bewirtung. Hier lernte ich so merkwürdige Dinge kennen wie Kalbsbries oder Teufelsdreck, assa-foetida. Es wurden im Jahr 1984 Weine aus dem Keller geholt wie ein 1964er Chateau Haut Brion Grand Cru oder ein 61er Ürziger Würzgarten.

Aber noch mal zurück an die Tür: Es muss für diesen Mann ein merkwürdiger Moment gewesen sein: Nach Jahrzehnten des Wirkens in der Kultur, einem kometenhaften Aufstieg, der sich nach seinem Weggang von der "Zeit" und anderen Periodika, in denen er nicht absolut tun und lassen konnte, wie und was er wollte (sein Motto wurde mehr und mehr das von Herman Melville "I write precisely as I please" - ich schreibe genauso, wie es mir passt), nach Jahren stetig fallender Abonnentenzahlen und immer geringerer Neigung seiner Kollegen, sich mit ihm geistig auseinanderzusetzen (Ausnahme in jenen Jahren: Walter Boehlich), erregt er plötzlich das Interesse eines Abiturienten aus dem Nachbardorf.

Aber er war nicht unglücklich über meinen Besuch. Im Gegenteil, er war hocherfreut! Und ein paar Jahre habe ich dann diesen Autor und sein Werk aus der Nähe studiert. Mit seiner Frau zusammen bildete er eine untrennbare und schlagkräftige Einheit.

Lies erstmal die "Fackel", Junge

Der Umgang war nicht nur grand-cru, aber ich war jung und zu allen möglichen Konzessionen bereit, wenn ich nur was lernte und erlebte. Das allerdings war bei den Nettelbecks, wenn man sie liebte, möglich. "Erstmal gehst Du zu Zweitausendeins und holst Dir für 150 Mark den Reprint der "Fackel", 120.000 Seiten. Die zweimal durchlesen ist eine gute Grundlage", sagte er schon bei der ersten Begegnung. Ja, man konnte bei ihnen schnell was mitkriegen und in drei Jahren soviel über Literatur, Musik und das gute Leben lernen wie in drei Magisterstudiengängen nicht. Leider verlor ich nach zweieinhalb Jahren plötzlich die Geduld. Die Zeit reichte trotzdem locker, um Sinn zu entwickeln für den nicht immer auf Anhieb zu verstehenden, aber nach längerer Betrachtung seine perfekte Balance enthüllenden Nettelbeck-Satz: "Was mich zwingt, an die damalige Vermutung eines Durchschnittsfalles den Verdacht zu knüpfen, daß der von mir bislang nur in Unkenntnis seiner Werke nicht geschätzte, nämlich aus der Ferne vorbehaltlos ästimierte Autor, nämlich als der lustige, als den man ihn betrachtet, nun doch genau dem Standard nachkommt, dem das seinerzeit monierte Zweifelhafte schon zu entsprechen schien."

Jetzt ist es allerhöchste Zeit, noch schnell vom schriftstellerischen Wirken dieses Mannes zu sprechen. Wer irgendeine Möglichkeit hat, sein Buch "Mainz wie es singt und lacht" von 1976 zu bekommen, am besten in der in schwarzes Ballonenleinen gebundenen Version, sollte zuschlagen. Damit hat man ein Unikat in Händen, eine von der Zeit geprägte, aber doch völlig individuell-singuläre Veröffentlichung, die so aussieht, wie Bücher später nie wieder aussehen werden. "Mainz wie es singt und lacht" ist der Prototyp der "Republik". Mit diesem Buch hat Nettelbeck zu seiner Form gefunden; sie ist hier aber noch etwas verspielt, etwas zugänglicher. Das Buch ist aber auch deshalb ideal zum Kennenlernen des Autors, weil in ihm beide Textsorten versammelt sind, in denen Nettelbeck so brillierte: Das eine sind die von ihm "Notizen" genannten Texte, die an Karl Kraus' Glossen geschult sind. In ihnen widmet sich Nettelbeck zahllosen Autoren, Verlegern und Journalisten, die mit irgendeiner Notiz oder Stellungnahme in einem anderen Periodikum sein Interesse erregt haben.

Die zweite und, wie ich finde, packendere Textsorte ist die Montage. Und da bekommt man in "Mainz wie es singt und lacht" gleich zwei Meisterwerke dieser Gattung, "Der Dolomitenkrieg" und "Die Ballonfahrer". Schon Mitte der 60er Jahre hat Uwe Nettelbeck angefangen, eine bestimmte Montagetechnik zu entwickeln beziehungsweise zu verfeinern, die längere Bögen spannt und den Leser fesselt. Das Montageverfahren hat es lange vor ihm gegeben, aber niemand hat seinem Material soviel Hingabe entgegen gebracht, dass er es notfalls auch ein wenig um- oder komplett neuschrieb. Die Kombination der beiden Textsorten Notiz und Montage führte bei Nettelbeck später in der "Republik" zu seinen großen Texten über Flaubert ("Republik" Nr. 48-54) und Melville (Nr. 82-85). Man wird die Texte des Whizzkids noch lange ästimieren.