Viel Neuro, wenig Kritik

Carsten Könnekers Sammlung von "Gehirn und Geist"-Beiträgen bestärkt durch Auslassungen den Eindruck eines Paradigmenwechsels in der Anthropologie

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich einigermaßen über das Geschehen in der akademischen Welt informiert und sich dabei auch über neue Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung auf dem Laufenden hält, dem dürften die jüngsten Impulse in der Debatte um das Menschenbild nicht entgangen sein. Als Laie fällt einem zweierlei dabei auf: 1. Zunehmend scheinen die Naturwissenschaften die Antworten zu geben, um die die Geisteswissenschaften seit Jahrhunderten verlegen sind. 2. Es ist dabei schwer, den Gedanken des einen (naturwissenschaftlichen) und des anderen (philosophischen) Lagers zu folgen.

Ein Sammelband, der uns in solch einer bewegten Zeit die Augurenkonkurrenz in der Anthropologie aufschlüsselt und erklärt, wer den Menschen erklärt, und vor allem, ob, und wenn ja, warum er diesen Anspruch erheben kann, ist deshalb dringend nötig. Allein: Auch mit einem gehörigen Discount hinsichtlich Komplexität, Argumentationsdichte und Wortwahl ist die Materie schwer zugänglich. Es liegt daher nahe, sich auf das Eingängliche zu beschränken und dort, wo es schwer wird, nach dem Motto "Mut zur Lücke" zu verfahren.

So fehlen in "Wer erklärt den Menschen", einer Zusammenstellung von Beiträgen der populärwissenschaftlichen Zeitschrift "Gehirn und Geist", allzu schwierige Artikel zur Qualia- und Willensfreiheitsdebatte und damit die zentralen Gedanken, welche die Philosophie des Geistes in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Die Folge ist leider, dass es an Ausgewogenheit fehlt. Ein "Dialog", wie im Untertitel angekündigt, sieht anders aus.

So wird die Konkurrenz schon zahlenmäßig deutlich zugunsten der naturwissenschaftlichen Forschung entschieden. Dabei sind die Richtungen, die über Jahrhunderte das Monopol in der Anthropologie innehattten, nun kaum noch vertreten: Theologie und Philosophie. Dass sich unter den 45 Beiträgerinnen und Beiträgern mit Ulrich Eibach und Eberhard Schockenhoff nur zwei Theologen finden, ist bezeichnend. Immerhin leisten mit Beckermann, Newen, Pauen, Voland und dem gleich mehrfach vertretenen Thomas Metzinger fünf Philosophen Beiträge. Doch die anderen 38 Wissenschaftler zeigen mehr oder minder deutlich an, wohin die Reise geht: Biologen, Mediziner, Psychologen und Hirnforscher begründen die Neurowissenschaften und damit die Ära eines neuen Naturalismus'. Und wenn dann mal ein Vertreter der Geistes-Zunft sprechen darf, bucht er, Michel Pauen, die philosophische Kritik an der physikalistischen Reduktion als "Denkfalle in der Leib-Seele-Debatte" ab, womit alle ernsten Bedenken gegen die neue naturalistische Sicht auf den Menschen zum "gedanklichen Fehltritt" werden.

Um die Thesen der zentralen "meinungsstarken" Texte "Manifest" und "Standortbestimmung" gruppieren sich Aufsätze und Interviews zur Biologie des Bewusstseins, zur Zukunft der Neurowissenschaften und der Psychologie, zur Willensfreiheit (beziehungsweise zu dem, was davon noch übrig bleibt, wenn selbst in der Psychologie Zweifel am freien Willen des Menschen aufkommen), schließlich auch zu den Grenzen der Hirnforschung und den ethischen Implikationen. Warum diese allerdings Thomas Metzinger fast im Alleingang analysiert, bleibt das Geheimnis des Herausgebers.

Insgesamt wird deutlich, dass die Macher von "Gehirn und Geist" in der physikalistischen Reduktion des Menschen die eigentliche Zukunft der Anthropologie sehen. Eingangs noch problematisiert ("Goldgräberstimmung", "Ist wirklich alles neu, was Neuro- heißt?", "Welche Forschungen [...] wollen wir zulassen?" und - als die eigentlich zentrale Frage -: "Was verleiht uns noch menschliche Würde?"), kristallisiert sich die neurowissenschaftliche Erforschung des menschlichen Gehirns doch im Verlauf des Bandes als neues Paradigma heraus, wohl hauptsächlich, weil die Neurowissenschaften so schön in die neue, utilitaristische Bologna-Welt der Wissenschaft passen und über dies auch viel besser zu vermarkten sind als die abstrakten Gedankengänge der analytischen Philosophie.

Denn einerseits liefern die Hirnforscher schöne, bunte Bilder von dem Mysterium in unserem Kopf, die man auch in den Wissenschaftsshows des Fernsehens und in populärwissenschaftlichen Zeitschriften zeigen kann; Könneker als Chefredakteur einer solchen spricht von "ikonographischer Qualität". Andererseits steckt in der "doppelt brisante[n] Eigenschaft" der Hirnforschung, nämlich zum einen Erkenntnisse zu liefern (das tut die Philosophie zumeist auch), zum anderen aber zugleich Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen (das tut die Philosophie zumeist nicht), ein Faszinosum, dem man die Kritik nur der Vollständigkeit halber beigesellt - zu verlockend ist die Aussicht auf tiefe Erkenntnis und ungeahnte Anwendungsfälle.

Die Frage, die sich ergibt, ist interessant, impliziert aber tiefschürfendes Nachdenken, gewissermaßen einen Blick hinter die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)-Bilder: Könnte es nicht sein, dass sich etwas den Messmethoden systematisch entzieht und somit neurobiologisch unerforschlich bleibt? Die Philosophie des Geistes verhandelt das unter dem Stichwort "Qualia", subjektive phänomenale Zustände des Bewusstseins, die sich nicht als Ladungszustand oder als farbliches Leuchten einer bestimmten Hirnregion zu erkennen geben. So anschaulich das auch sein mag, es erreicht nicht die Tiefe oder Höhe der Qualia. Ansgar Beckermann hätte hierzu mehr zu sagen gehabt als zwei Seiten, auf denen er aber den entscheidenden Punkt benennt: "Denn die Zusammenhänge zwischen höherstufigen Prozessen werden gar nicht sichtbar, wenn man allein von niederstufigen Phänomenen ausgeht." Beckermann spricht auf der gleichen Seite hinsichtlich der intentionalen Vorgänge ebenso davon, dass das "Willensfreiheitsproblem" nicht Gegenstand der empirischen Forschung, sondern der Philosophie ist, "in deren Geschichte dieses Problem so ausführlich und gründlich diskutiert wurde wie sonst nirgendwo". So schnell lässt sich der Alleinerklärungsanspruch einiger Hirnforscher aushebeln.

Doch sonst wird diesen wenig entgegengesetzt, obwohl der im "Manifest" verkündete Glaube der Hirnforscher an die Reduzierbarkeit von "Geist, Bewusstsein, Gefühlen, Willensakten und Handlungsfreiheit" auf "natürliche Vorgänge" auf der Basis "biologischer Prozesse" geradezu nach Kritik der Geisteswissenschaften schreit. Doch erstaunlich gelassen reagiert die Zunft auf den neurowissenschaftlichen "Frontalangriff auf die Menschenwürde", den selbst Wolf Singer diagnostiziert, allerdings mehr als wertneutralen Befund der veränderten Lage denn als Mahnung an eine Selbstbeschränkung der neurobiologischen Forschung.

Die Philosophie hingegen, so suggerieren die Beiträge, bleibt nicht etwa stumm, weil sie dieser Veränderung keine Bedeutung beimisst, sondern weil sie sie als Faktum begreift, mit dem es fortan zu leben gilt. Zu dieser unterwürfigen Formel scheint man sich durchgerungen zu haben. In aller Ruhe ("Alarmismus und Panikmache wäre die falsche Einstellung", so Metzinger) wird versucht, möglichst große Anteile an der künftigen Anthropologie zu reklamieren (so macht Metzinger den Umgang mit den Erkenntnissen der Hirnforschung zum Teil des "philosophischen Projekts der Aufklärung"); ansonsten möge "politische Steuerung" die schlimmsten Auswüchse bei der Anwendung verhindern.

Der positive Beitrag der Neurowissenschaften, insbesondere der Hirnforschung, soll dabei nicht kleingeredet werden (interessant sind etwa die Einlassungen Metzingers zu einer Überprüfung des moralischen Status' von Tieren aufgrund ihrer nunmehr nachweisbaren Leidensfähigkeit), doch insgesamt zeigt sich etwas zuviel Einigkeit. Daran kann am Ende auch Schockenhoffs Bekenntnis zum christlichen Menschenbild und seine mutige Kritik kaum etwas ändern. Seine Bedenken, Wissenschaft sei "kein Königsweg zu allen Phänomenen oder gar zu ihrem existenziellen Verständnis" und damit "besser beraten, keine Deutungshoheit über die Wirklichkeit an sich zu reklamieren", kommt sehr spät, zu spät, nach soviel Erfolgsgeschichten und Zukunftsperspektiven.

Fazit: Wer einen Einstieg in die Neurowissenschaften sucht und nicht fünf Jahrgänge "Gehirn und Geist" nach einschlägigen Texten durchstöbern will, ist hier richtig. Wer nach neuen Originalbeiträgen oder Übersetzungen der meist englischsprachigen Fachaufsätze der Philosophie des Geistes und nach kritischen Beiträgen der theologischen Anthropologie sucht, ist hier falsch.


Titelbild

Carsten Könneker (Hg.): Wer erklärt den Menschen? Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
287 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-10: 3596173310

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