Zu dieser Ausgabe

Gefragt, wie sie beim Autofahren vom zweiten in den dritten Gang schalten, antworten die meisten Menschen fälschlicherweise mit "Kupplung drücken". Bekanntlich müssen sie aber zuerst den Fuß vom Gaspedal nehmen. Dies ist jedoch nur eines von unzähligen alltäglichen Beispielen dafür, wie hochgradig automatisiert unser prozedurales Gedächtnis funktioniert - und wie unbewusst neuronale Vorgänge ablaufen, die unser Leben in jedem Moment maßgeblich steuern und bestimmen.

Die Hirnforschung hat in der Erforschung solcher Mechanismen große Fortschritte gemacht und sich auch aus interdisziplinärer Perspektive zur tonangebenden Wissenschaft unserer Tage aufgeschwungen. Skeptiker mögen sich fragen, was das alles mit Kunst, Philosophie und Literatur zu tun haben soll. Tatsächlich sind aber viele der Erkenntnisse, die die Neurobiologie präzisiert und immer weiter ausdifferenziert hat, in der Literatur längst vorweggenommen und sogar sehr genau beschrieben worden. Wenn etwa Marcel Proust in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" (1913-1927) schildert, wie der Geschmack von in Lindenblütentee getauchten "Petit Madelaines" eine ganze Kaskade unverhoffter Erinnerungen heraufbeschwören kann, so hat er damit wie 'nebenbei' typische, auf dem Geruchssinn basierende Gedächtnisformen im limbischen System unseres Gehirns erfasst, die bewusste Bearbeitungsschleifen umgehen und aus der subjektiven Sicht des Empfindenden tatsächlich wie eine "mémoire involontaire" (Proust) funktionieren.

Ob nun geisteswissenschaftliche Betrachtungen wirklich dadurch gewinnen, dass sie solche interdisziplinären Brücken zur Hirnphysiologie schlagen, hängt nicht zuletzt von den Parametern ab, die sie sich selbst setzen. Im Rahmen eines "Emotional Turns" oder auch eines "Iconic Turns" etwa könnten solche Kooperationen mit der Naturwissenschaft sicherlich sinnvoll, ja dürften mittlerweile vielleicht sogar unumgänglich geworden sein.

Doch wie sehen aktuelle fachliche Kontroversen zum Thema überhaupt aus? Als kleinen Vorgeschmack auf den Deutschen Germanistentag 2007, der im September in Marburg stattfindet; präsentiert die vorliegende Ausgabe von literaturkritik.de schon einmal einen Themenschwerpunkt zum Thema "Natur und Kultur", um Einblicke in ein fürwahr weitläufiges Untersuchungsgebiet zu geben.

Herzliche Grüße,

Ihr

Jan Süselbeck