Schreibrausch und Schreibblockade

Die Neurologin Alice W. Flaherty über "Die Mitternachtskrankheit"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mitternachtskrankheit" nannten Edgar Allen Poe und später Michael Chabon einen Zustand, in dem Schriftsteller sich befinden, wenn sie schreiben. Krankhaft kann daran ganz Gegensätzliches sein: der rauschhafte Zwang oder die totale Blockade. Von beidem handelt ein Buch der Ärztin und Neurologin Alice W. Flaherty. Das Material, auf das sich ihre Beobachtungen beziehen und das sie mit neurologischem und manchmal sogar literaturtheoretischem Wissen kommentiert, kommt vor allem aus drei Quellen: überlieferten Erfahrungsberichten längst toter Autoren zwischen Antike und 20. Jahrhundert, einschlägigen Symptomen behandlungsbedürftiger Patienten - und Selbsterfahrungen einer Schriftstellerin, für die das Schreiben nach eigenem Bekenntnis ein Art Sucht ist. Das Buchresultat ist eine bunte, anschauliche, intelligente und immer anregende Mischung aus kulturgeschichtlichen, wissenschaftlichen, autobiografischen und therapeutischen Diskurselementen.

Die Krankheit "Hypergrafie" kann, so erfahren wir, unterschiedliche Ursachen haben, die aber alle somatisch identifizierbar und zum Teil auch erklärbar sind: vorrangig "Schläfenlappenepilepsie", auch Manie und Schizophrenie. Der Schläfenlappen scheint in allen Fällen beteiligt zu sein. Kulturproduktiv wird die Hypergrafie allerdings, wie Flaherty einschränkt, nie in schweren Fällen. Als eine Kronzeugin dafür zitiert sie Sylvia Plath: "Wenn man verrückt ist, ist man damit beschäftigt, verrückt zu sein. - immerzu ... Als ich verrückt war, war das alles, was ich war."

Weit verbreiteter als die Hypergrafie ist die Schreibblockade. Gelegentlich treten beide zusammen auf. "Der Epileptiker Flaubert, der nahezu genauso viele Worte ausstrich, wie er schrieb, war möglicherweise ein Beispiel dafür." Wie sich Schreibblockaden anfühlen, was im Gehirn (vorrangig im Stirnlappen) derer vorgeht, die unter ihr leiden, und wie (selbst)therapeutisch damit umgegangen wird, davon handelt der größte Teil des Buches. Der interessanteste Teil dürfte aber für viele in den Kapiteln "Wie wir schreiben: der Kortex" und "Warum wir schreiben: das limbische System" stehen. Denn das "wir" bezieht alle ein, die schreiben, und nicht nur pathologische Extremfälle. Dass sich die Autorin dabei in ihren Präferenzen für neurologische Beschreibungen und Erklärungen offen gegenüber vielen anderen Theorien zeigt, psychoanalytischen, evolutionsbiologischen oder kognitionspsychologischen, schließt zudem niemanden aus und erhöht die Glaubwürdigkeit ihrer Darlegungen.

"Es ist ein gefährlicher Sprung von der Literaturtheorie zur neurowissenschaftlichen Erklärung", warnt die Autorin. Solche Vorsicht tut dem Buch gut, enttäuscht aber wohl jene, die in ihm nach klaren Ergebnissen suchen. Glaubt man beim Lesen über Schreibblockaden eben noch eine eindeutige Empfehlung für medikamentöse Behandlungen zu bekommen, wird man schon im nächsten Abschnitt vor den negativen Folgen gewarnt.

Das Buch liest sich leicht, doch der Autorin ist es bei allem, was sie weiß und was ihr einfällt, über 350 Seiten hinweg schwer gefallen, sich kohärent, knapp und ergebnisorientiert auf Wesentliches zu konzentrieren. Das Buch hat damit selbst etwas von der Symptomatik, um die es ihm geht. Die Lektüre lohnt sich trotzdem.


Titelbild

Alice W. Flaherty: Die Mitternachtskrankheit. Warum Schriftsteller schreiben müssen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Käthe H. Fleckenstein.
Autorenhaus-Verlag Manfred Plinke, Berlin 2004.
382 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3932909399

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch