Gewaltspiele

Antonio Dal Masetto zeigt, wozu Dorfbewohner fähig sind

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo ist der Ort der Gewalt? Wo findet sie statt? Die moderne Stadt ist ein Hort des Verbrechens, der Gewalt und der Bluttaten. New York, Chicago, Los Angeles, London und meinethalben noch Berlin oder Paris. Das scheint eine liebe Gewohnheit zu sein, der die meisten Krimiautoren bis heute folgen.

Bis auf ein paar Ausnahmen. Antonio Dal Masetto gehört zu denen, die gerne eine solche machen und dabei im Genre zumindest einige kurzweilige Lektüren ermöglichen. Das hat er bereits mit dem gleichfalls im letzten Jahr auf deutsch erschienenen Band "Noch eine Nacht" demonstriert, in dem er ein ganzes Dorf auf vier Bankräuber hetzt und dabei eine Gewaltorgie anzettelt, die man in solch idyllischen Regionen nicht erwarten würde (aber wie immer irrt man mit solchen Klischees). Am Ende sind die vier Bankräuber tot, erschlagen, erschossen, zu Tode gequetscht, und auch vier Dorfbewohner haben dran glauben müssen (inklusive der Frau des Notars Varini, deren Tod als eine Art Kollateralschaden gelten kann).

Der neue Roman setzt anderthalb Jahre später an. Der Bankraub ist unvergessen, ein Ereignis, das sogar in den Medien Argentiniens Wellen schlägt, wo der Roman angeblich spielt (dem Text entnimmt man es nicht). Diesmal kommt nur ein Fremder, Muto, über dieselbe Straße ins Dorf - und schon bevor er die Ortsgrenze überschritten hat, ist klar, dass von einer Idylle keine Rede sein kann. Zwei Männer überfallen in aller Seelenruhe einen Viehtransportzug und schlachten ein Kalb ab, um sich kurz danach an dessen Fleisch gütlich zu tun: Willkommen in Bosque! Solche und ähnliche Randbeobachtungen bestimmen von Anfang an die Stimmung des Textes und schüren eine fast schon bange Erwartungshaltung. Was mag da noch kommen?

Der Mann, der ins Dorf fährt, kommt wegen des Banküberfalls. Er hat einen Bericht gelesen und in einem der Bankräuber den Mann wieder erkannt, mit dem seine Frau zwanzig Jahre zuvor durchgebrannt ist. Jetzt ist der Nebenbuhler tot. Was Muto da noch in dem Dorf will, wird nie ganz klar. Spontan gibt er sich bei seiner Ankunft als Drehbuschschreiber und Vorauskommando eines Filmteams aus, das später im Jahr einen Film über den Banküberfall drehen wolle. Der besondere Clou dabei: Die beteiligten Dorfbewohner solten selbst ihre Rollen spielen. Angesichts solcher medialen Karrierechancen und überhaupt wegen der Abwechslung, die das alles verspricht, wird der Mann selbstverständlich zu einer attraktiven Partie. Jeder will mit ihm sprechen, der Notar Varini, der seine Frau umgebracht hat, der Ingenieur, der von Safaris fantasiert und der mit seiner Flinte einen der Bankräuber erschossen hat, und der Bankdirektor, dessen heimliche Leidenschaft das Sammeln von Zinnfiguren ist. Muto trifft sich immer wieder mit ihnen, verbringt seine Zeit mit ihnen, und fotografiert sie mit seiner Kamera, die keinen Film enthält. Er fragt, er schaut zu, er folgt heimlich dem Notar, und er wird selber von dessen Tochter Leda auf ihrem Motorrad verfolgt.

Was sich bereits in der Eingangssequenz andeutet, löst Dal Masetto im Verlauf der Handlung nach und nach ein. Die Atmosphäre ist gewaltgesättigt. Immer noch wird die Beute des damaligen Überfalls vermisst, und auch jetzt wird sie nicht gefunden. Der Fremde recherchiert zwar, aber er ist nicht an der Wahrheit interessiert. Er ist im Grunde genommen überhaupt an nichts interessiert, nicht an der Wahrheit, nicht an der Beute. Er pflegt eine interesselose Anschauung, ist dabei aber von erstaunlicher Zielstrebigkeit. Und es geht am Ende dann doch vor allem ums Geld.

Er bringt durch seine spektakuläre Anwesenheit das gewöhnliche Leben im Dorf ins Stottern. Varini ist offensichtlich die eigentlich lenkende Macht im Dorf. Als die jüngeren Bewohner den ehemaligen Priester des Dorfes bedrohen, greift nicht etwa die Polizei ein. Warum wohl? Dass am nächsten Morgen ein Ohr an die Tür eines Hauses genagelt worden sein soll, ist zumindest glaubhaft. Es braucht dann auch nicht lange, bis eine neue, diesmal aber nicht kollektive, sondern individuelle, ja beinahe psychedelische Gewaltwelle durchs Dorf flutet. Ihr fallen vor allem die Protagonisten der Treibjagd auf die Bankräuber zum Opfer. Allerdings ist diese Gewalt offensichtlich mit harten wirtschaftlichen Interessen verbunden. Varini versucht, sich nach und nach den Grundbesitz im ganzen Dorf unter den Nagel zu reißen.

Besitz, Raub, Macht und Gewalt erzeugen eine Melange, in der alles möglich wird und nicht bestraft wird, es sei denn, es widerspräche den Interessen des lokalen Machthabers. Dass er schließlich seiner eigenen Machtgier zum Opfer fällt, wird jeder aufmerksame Leser früh vermuten. Dass seine Tochter daran nicht unschuldig ist, gleichfalls. Dass aber am Ende der Geschichte der Bankraub endlich gelingt, das ist ein denkwürdiger Dreh, für den wir Dal Masetto dankbar sein können.

Da keine der Figuren einem Leser auch nur irgendwie vertraut wird - was eine Qualität des Romans ist - bleibt als Haltung nicht einmal Sympathie, sondern nur distanzierte Kenntnisnahme. Aha. Interessant wäre es zu sehen, ob Dal Masetto seine beiden Dorfromane zu einer Trilogie ausbauen wird. Interessant vor allem, weil man es ihm zutraut.


Titelbild

Antonio Dal Masetto: Blut und Spiele. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanna Mende.
Rotpunktverlag, Zürich 2006.
231 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3858693243

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