"Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten"

Gerhard Paul hat einen Band über "Visual History" herausgegeben

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Walter Benjamin vor Jahrzehnten schrieb - "Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten" - wird in der Geschichtswissenschaft und insbesondere in der Zeitgeschichte zunehmend zu einem Thema. Spätestens seit den viel beachteten Wehrmachtsausstellungen und aktuellen Filmen mit ,historischen' Bezügen - "Der Untergang", "Rosenstraße" oder "Edelweisspiraten" - sowie Geschichtsdokumentationen und Filmen auf öffentlichen und privaten Fernsehkanälen ist das Interesse gewachsen, sich mit "Visual History" zu beschäftigen.

Für Gerhard Paul, den Herausgeber des hier anzuzeigenden Studienbuches, ist "Visual History" ein Sammelbegriff für alle Versuche, unterschiedliche Bildgattungen als Quellen in die historiografische Forschung einzubeziehen und die Visualität von Geschichte wie auch die Historizität des Visuellen zu thematisieren. "Letztlich geht es darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hinaus als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren." Mit einem weiten Bildbegriff sollen Plakate, Bildpostkarten und Karikaturen ebenso wie Alltagsfotografien und Filme bis hin zu Fernsehen und Internet Berücksichtigung finden.

In dem Band sind Beiträge von achtzehn HistorikerInnen versammelt, die mit beispielhaften materialgesättigten Analysen einen repräsentativen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der "Visual History" geben. Sie motivieren auch die LeserInnen, sich verstärkt der Visualität von Geschichte zuzuwenden.

Zu Beginn der Palette der Beispiele steht eine Studie von Michael Sauer zu Plakaten als historischen Quellen. Es geht weiter mit der Anschaulichkeit von Alltagsfotografien (Marita Krauss) und "Überlegungen" von Martina Heßler zu Wissenschafts- und Technikbildern sowie einer Betrachtung von Günter Riederer zum Verhältnis von Film und Geschichtswissenschaft. Da Spielfilme - wie die eingangs erwähnten - Geschichtspolitik betreiben, fordert er die Geschichtswissenschaft auf, sich an den Kontroversen zu beteiligen. Es müsste eigentlich heißen: sich stärker zu beteiligen, denn zumindest über die "Rosenstraße" und den "Untergang" (siehe literaturkritik.de 5/2006) und einige andere Streifen wird ja bereits heiß diskutiert.

Beispielhaft werden einige Bilderwelten untersucht: von Frank Becker die des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und von Jens Jäger die des Kolonialismus. Klaus Hesse thematisiert die Bilder lokaler Judendeportationen als Zugang zur Alltagsgeschichte des NS-Terrors anhand von drei Beispielen. Diese belegen einerseits die Öffentlichkeit der Verschleppungen der jüdischen Minderheitsbevölkerung und verbergen andererseits mehr als sie zeigen, "nämlich alle nicht abbildbaren oder nicht abgebildeten Charakteristika der Ereignisse." Ein völlig anderes Thema ist die von Cord Pagenstecher beleuchtete Geschichte des touristischen Blicks in Reisekataloge und Urlaubsalben.

Astrid Wenger-Deilmann und Frank Kämpfer erkunden die Bildsprache des Politischen - etwa den berühmten Kniefall von Willy Brandt 1970 am Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto und andere Pathosformeln. Politische Karikaturen (Bernhard Fulda) und Imaginationen des italienischen Diktators Mussolini in einem Beitrag von Clemens Zimmermann kommen hinzu. Der Herausgeber selbst untersucht die Medienikone "Mushroom Clouds" - die weltbekannte Aufnahme der Atombomben-Explosion 1945 - im interkulturellen Vergleich. Ein weiteres vorgestelltes Untersuchungsfeld ist die Nachwuchswerbung der Bundeswehr (Thorsten Loch).

Das letzte Kapitel ist dem Dreischritt "Bild - Gedächtnis - Erinnerung" gewidmet und enthält kontextualisierende historisch-politische Einordnungen: von Christoph Hamann eine quellenkritische Interpretation eines Fotos vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945) und von Habbo Knoch die Analyse der Illustrierten-Berichterstattung zum Eichmann-Prozess. Frank Bösch setzt sich kritisch mit neueren Fernsehdokumentationen am Beispiel der ZDF-Serie "Holokaust" auseinander. Stefan Wolle beschreibt die DDR im visuellen Gedächtnis und Thomas Lindenberger untersucht abschließend die Historisierung der DDR in den Spielfilmen "Sonnenallee", "Good Bye Lenin!" und "Der Rote Kakadu".

Das Buch gibt einen guten Überblick über Erkenntnisinteressen, mögliche Themen, Arbeitsformen und Präsentationen von "Visual History". Ein anschauliches Studienbuch.


Titelbild

Christoph Hamann (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3525362897
ISBN-13: 9783825506872

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