Vor Betriebsfremden wird gewarnt

Oskar Negts aktualisierende Lektüre "Die Faust-Karriere"

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur vor Baustellen oder H5N1-gefährdeten Geflügelbetrieben trifft man häufig auf das Warnschild "Betriebsfremden ist der Zugang untersagt". Zuweilen wird es auch vor Germanistikfabriken positioniert, um unliebsame "Quereinsteiger" am Eindringen und Verwüsten der sorgsam gepflegten Spezialistensortimente zu hindern. Im Vorwort zu seinem Buch "Die Faust-Karriere" versucht sich Oskar Negt, ein "ausgewiesener" Fachmann auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften und Philosophie, als Außenseiter mit Außensicht auf Goethe und dessen Opus "Faust" zu präsentieren, dessen Zugangsweise - trotz nicht erworbener Mensuren auf dem harten, trockenen Terrain der Germanistik - durchaus legitim sei.

Dies hinderte freilich nicht zwei Vertreter der germanistischen Zunft - den Literaturwissenschaftler Manfred Schneider und den Literaturkritiker der "Berliner Zeitung", Stephan Speicher - daran, Negt in der SWR-Sendung "Literatur im Foyer" vom 15. Dezember 2006 öffentlich abzustrafen. In einem publikumswirksamen Tribunal ereiferten sich die beiden ebenso selbstgerecht wie selbstgefällig als Wachhunde des germanistischen Betriebsschutzes, der "Dilettant" (wie Speicher Negt in seiner Kritik im missratenen Berliner Schein-Imitat der "Washington Post" vom 14. Dezember 2006 titulierte) habe entweder nichts Neues zu berichten (all dies kenne man doch alles aus der bleiernen Zeit der 1970er-Jahre), oder seine Ausführungen seien abstrus oder "ziemlich strapaziert".

Angekreidet wird Negt seine subjektive Auseinandersetzung mit Goethes Opus, mit dem er sich seit seiner Jugend beschäftigte. ("Das Abitur verdanke ich wesentlich Goethe", heisst es am Schluss, in dem Negt über seine beschwerliche Schulkarriere und seine autodidaktische Affinität zu Goethe in einer autobiografischen Reminiszenz reflektiert.) In den Augen des Literaturkritikers, der sich seine akademische Weihen mit einer Dissertation über die frühmittelhochdeutsche Dichtung erwarb und mit seiner unreflektierten Treue zum Akademikertum eine "Parteinahme für den Verrat schlechthin" (Paul Nizan) demonstrierte, ist Negt, der sich seine Sporen nicht in germanistischen Exerzitien verdiente, ein perfider Eindringling - ein unverschämter Intellektueller, der sich anmaßt, über Dinge zu urteilen, von denen er kaum etwas verstehe. Speichers Argumentation hat Tradition: Sie reicht in die Geburtstunde der modernen Intellektuellen zurück, als die Wachhunde der traditionellen Herrschaft alle Macht aufboten, um unbotmäßigen Autoren, die sich in Dinge einmischten, die sie nichts angingen, "das Maul zu stopfen" (wie Michel Winock in seiner Studie über die französischen Intellektuellen schreibt).

In Negts Lektüre des Klassikers erscheint Faust in der ersten Phase als Prototyp des modernen Intellektuellen, der als geistiger Desperado "in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche denkt und handelt" und die "Gebrochenheit der Existenzweise des modernen Menschen" erfährt. Trotzdem fehle Faust, argumentiert Negt, Einsicht in das eigene Handeln. An die Stelle der Erkenntnis tritt das Vergessen. Die Verantwortung für seine Entscheidung delegiere Faust an andere Personen oder anonyme Verhältnisse und verweigere sich den Lernprozessen.

Damit arbeitet Negt einen bestimmenden Wesenszug der Intellektuellen im 20. Jahrhundert heraus, der sich vor allem im Typus des Konvertiten, Apostaten oder Renegaten kristallisierte: Die Hölle sind die anderen, die an der Miserabilität der Welt die alleinige Schuld tragen, während sich der in die schlechten Verhältnisse Verstrickte der Geschichte entwinden möchte. Wer jedoch mit seiner Vergangenheit bricht, bleibt unfreiwillig dem Bisherigen verhaftet. "Man schätzt einen Menschen, der sich ändert, weil er reifer wird und heute mehr Dinge begreift als gestern", schrieb Maurice Merleau-Ponty. "Doch ein Mensch, der seine Position umkehrt, ändert sich nicht, er überwindet nicht seine Irrtümer."

Leider verfolgt Negt diesen Ansatz nicht weiter, sondern wendet sich im zweiten Teil Faust als frükapitalistischem Unternehmer zu, der sich zum empfindungslosen Vergewaltiger von Natur und Individuum aufschwingt, wobei die naturwisssenschaftliche Wissensakkumulation die räuberische ökonomische Akkumulation und die damit einhergehende despotische Unterwerfung bedinge. "Faust setzt auf diktatorische Befehlsgewalt und blinde Folgebereitschaft", resümiert Negt. "Auch die ideologische Komponente eines Führerkults spielt in seinen unternehmerischen Gedankenreihen eine zentrale Rolle." Die Karriere ende mit dem gescheiterten Unternehmer, dessen Überreste verscharrt würden. Anders als im ersten Teil des Buches, in dem die diskursive Linie bezüglich des "verzweifelten Intellektuellen" Faust hinter Exkursen und Digressionen (etwa in der Reflexion über die Nähe von Weimar und Buchenwald) zu verschwinden droht, argumentiert Negt hier schlüssig, indem er Faust als Prototyp des "homo oeconomicus" im auf die Maximierung des Mehrwerts um jeden Preis ausgerichteten Kapitalismus zeichnet, der noch nicht den "Regeln entfalteter Warenproduktion" unterliege.

Der Geist des Kapitalismus ziehe sich wie ein roter Faden durch beide Teile des "Faust", insistiert Negt. Mit Kant, Marx und Adorno im Gepäck begibt er sich wie ein Beckett'scher Held in die geistigen Niederungen des Neoliberalismus, der den Sozialstaat für den Sündenfall hält und von der allseitigen Verfügbarkeit des "Arbeitskraftbesitzers" träumt. Tatsächlich scheut Negt nicht davor zurück, in den Schlamm des "Wie es ist" zu kriechen und Elaborate marktkonformer Talkshow-Bezahl-Gäste wie Meinhard Miegel oder Hans-Olaf Henkel ("da ist etwas, das nicht stimmt" - Beckett ) hervorzuziehen, um deren "Faust"-Deutungen seine Lektüre des Originals entgegenzusetzen. Am Ende steht der kritische Widerspruch gegen die Betriebslautsprecher, die allenthalben den gesellschaftlichen Raum durchdringen. In Zeiten des allumspannenden konformistischen Zeitgeistes ist dies nicht wenig.


Titelbild

Oskar Negt: Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer.
Steidl Verlag, Göttingen 2006.
304 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3865211887

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch