Wenn Gott wütet und schweigt

Navid Kermanis bemerkenswertes Buch "Der Schrecken Gottes" über die philosophische Frage der Religion schlechthin

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Von der Kunst ist gut Reden", wusste schon Celan. Noch besser Reden ist seit einiger Zeit von der Religion. Sie ist zweifellos hoch im Kurs. War beispielsweise Islamwissenschaft Mitte der neunziger Jahre noch eine exotisch wie milde Geisteswissenschaft, kann man mit ihr heute in Regierungs-Think-Tanks Karriere machen. Die US-Außenministerin spricht russisch, ein Zeichen ihrer Abkunft aus der Ära des Kalten Krieges. Ihre aufstrebenden Mitarbeiter sprechen vermehrt arabisch, vielleicht auch chinesisch. Die Strategen für Sicherheit und Verteidigung interessiert nicht mehr, wie ein Kommunist, sondern wie ein Islamist denkt.

Die Religion, sowohl vom links-liberalen wie vom bürgerlich-konservativen Geist in Wahrheit längst abgeschrieben, sie ist als postmodernes Phänomen, als postmoderne Realität in Europa wieder da. Es scheint, als sei sie zurückgekommen, um zu bleiben. Nicht nur als kulturelle Selbstvergewisserung gegenüber dem "fremden" Islam.

Aber auch nicht nur als ernüchterte, enttäuschte Reaktion auf säkulare Utopien, die ihre Versprechen nicht gehalten oder nie welche gegeben haben. Religion ist - trotz Marxismus, Psychoanalyse und technologisierter Humanwissenschaft - zu Anfang des neuen Jahrtausends wieder da. Sie ist wieder da, und hier wird das "wieder" falsch, weil sie dergestalt immer da war: als Lebensform.

Stellen wir uns eine Überblicksskala für aktuelle Positionen im religiösen Feld vor: Ziemlich weit gegen das eine Ende der Skala hin stünden ehrenmordende Fanatiker. Ein Stück dahinter kämen die Neo-Fundamental-Evangelikaner aus den USA, die mit einer vorgeblich biblischen Moral, "Kreationismus" und anderen Abstrusitäten die amerikanische Kultur zu talibanisieren versuchen.

Sehr weit weg, am anderen Ende, fast außer Sichtweite, stünde auf dieser Skala Navid Kermanis Buch über Attar, Hiob und die Abgründe in der Beziehung zu Gott.

Das Buch ist so gut, weil sein Autor weiß, wovon er spricht und daher kein Gerede nötig hat. Das gilt für Kunst, Geistesgeschichte und Religion.

Er kennt, wie er gleich zu Beginn darstellt, gelebte Religiosität in ihrer weiten, innigen und lebendigen Form aus seiner iranischen Familie. Und kann von dort her auch ihre verzweifelte, dunkle Seite begreifen, wie sie die Poesie Heines oder Attars zeigt. Eine eminent wichtige Entscheidung hat Kermani bereits vor der ersten Seite stillschweigend getroffen: Die Bedeutung der Religion im Persönlichen der Lebensform zu sehen und nicht in einem vermeintlichen Gegenentwurf zu irgendeinem wissenschaftlichen oder säkularen Weltbild. So bekommt er das Wesentliche in den Blick, das hier gleichzeitig das selbstverständlich und alltäglich Menschliche ist: "Denn am Ende, dem letzten der Tage [...] zählt die Güte, nichts anderes."

Dass nur die Güte zählt, heißt nicht, dass alles gut ist. Das unbegreiflich Ungerechte und Schreckliche der Wirklichkeit kann aus dem Sprechen zu Gott nur auf Kosten eines "schweren Realitätsverlustes" herausfallen. Die Frage nach dem Bösen und dem Unheil wird in allen drei monotheistischen Religionen gestellt. Doch die menschliche Klage zum Himmel, der Leidensschrei gegen Gott sind im Neuen Testament kaum und im Koran gar nicht vorgesehen. Die drei Hauptstimmen des "Warum hast du mich verlassen?" sind in Kermanis Buch daher: Seine Tante Lobar, der biblische Hiob und - Attar.

Faridoddin Attar, geboren 1145 wahrscheinlich in Nischapur (im Nordosten des heutigen Irans), muslimischer Mystiker und einer der größten persischen Dichter, verfasste mit seinem "Buch der Leiden" ein "furchterregendes wie verstörendes Stück Weltliteratur", "eine radikale Kosmologie des Schmerzes" mit "pechschwarzem Humor". Kermani arbeitet die zentralen Topoi der außergewöhnlich düsteren und exzessiven Gottesklage Attars heraus: "Sehnsucht nach dem Nichts", "Theologie der Angst", "Die Narren", "Häresie der Frömmsten", "Satans Klage". Zudem gelingen ihm Analyse und Darstellung der Traditionslinien, die zu Attar hin führen und von ihm ausgehen. Jüdischer, christlicher und islamischer Kulturkreis erweisen sich dabei als "osmotisch durchlässig": Arabisches Geistesgut erscheint als Vorläufer von Dantes "Göttlicher Komödie", jüdische Quellen als Inspiration von Attars "Buch der Leiden". Es gehört zweifellos zu den Vorzügen von Kermanis Buch, diese Überkreuzungen und Verquickungen, wie sie für Teile des mediterranen Raums und vor allem für den Nahen Osten geradezu typisch sind, nicht mit humanistischem Vorsatz, sondern historisch-philologisch präzise, detail- und kenntnisreich hervorzuheben.

Trotz Wissenschaftlichkeit und trotz der Schwere des Themas bleibt die Lektüre des Buches ein Genuss, was sich Kermanis schon mehrfach unter Beweis gestelltem Talent auf diesem Gebiet verdankt - etwa in seinen Büchern "Du sollst" (2005) und "Gott ist schön" (2000). Kermani scheint hoffnungslos unbegabt, schwerfällig zu schreiben.

Kermani kontextualisiert Attar in allen Kapiteln des Buches mit dem, was man eine europäisch-neuzeitliche ,Literatur der Verzweiflung' nennen könnte. Es sind nicht Theologen, sondern Autoren wie Shakespeare, Büchner, Heine, Nietzsche, Celan, Cioran und Beckett, die Kermanis Expertenrunde zum Thema ,Erfahrungen mit der Theodizee am eigenen Leib' bilden.

Da kaum jemand über diese Autorenspezies so leidenschaftlich, obsessiv und mitreißend geschrieben hat wie der russisch-jüdische Philosoph Leo Schestow (siehe literaturkritik.de 9/2006 und literaturkritik.de 1/2006), überrascht es fast, dass Kermani bei seiner Arbeit anscheinend nicht auf ihn gestoßen ist.

Wenn Wittgenstein Recht hat und eine metaphysische Frage eigentlich keine Frage, sondern eher ein Ausruf des Unbehagens ist (wie wenn man kalte Füße hat oder sich den Finger verbrennt), dann handelt "Der Schrecken Gottes" von Menschen und Autoren, die von diesem Unbehagen wie von flüssiger Lava überschüttet worden sind.

Vor diesen "Nachkommen Hiobs" zeigt das Gerede, Posieren und - weitaus schlimmer - das Agitieren und Manipulieren im Namen der Religion schnell seine Begrenztheit oder auch Armseligkeit. In welchen Koloraturen auch Attar die Hiob-Frage geseufzt, geflucht, gebrüllt und gelästert hat und damit in die philosophische Frage der Religion schlechthin vorgedrungen ist, führt Kermani eindrücklich vor.

Ihren philosophischen Namen hat die "Theodizee"-Frage von Leibniz, der ihre grenzenlose Verstörung in unübertrefflicher Manier zugekleistert hat: Wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Dass dies nicht so ist und gerade auch für den Gottgläubigen nicht, das scheint mit Attar bewiesen: Der "religiöse Furor" des "Buchs der Leiden" macht "das Leidenschaftliche wie Exaltierte der Auflehnung aus, das Maßlose und Spinnerte, den heiligen Zorn und die verzweifelte Häresie. Eben weil Gott noch als uneingeschränkte, unzweifelhafte und vor allem ersehnte und vergebens geliebte Realität empfunden wird, sind die Enttäuschung und Wut konkret; sie richten sich nicht auf ein allgemeines Weltenschicksal, sondern auf jenen als gerecht und barmherzig verkündeten Schöpfer, dem der Mensch seine Qual zu verdanken hat. ,Das Buch der Leiden' verwirft die Möglichkeit, die die abrahamitischen Religionen gefunden haben, um Gott von der Verantwortung für das Böse freizusprechen."

Kermani hat zu einem guten Zeitpunkt ein Buch geschrieben, das Grenzen, etwa der Kultur, des Glaubens oder der Konfession, durchlässig macht und relativiert, nicht durch weichgespülte Esoterik oder "post-Enlightenment banalities" (C. Taylor), sondern durch die Wahl einer maximal zugespitzten und verschärften Frage.


Titelbild

Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406535240

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch