Der Chronist der Gefühle

Alexander Kluge, der faszinierende Tänzer auf vielen Hochzeiten, wird 75

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein paar Minuten nur, dann spätestens hat Alexander Kluge bei jedem Gespräch den Zuhörer gewonnen, weil er so intensiv spricht, so heiter und so unaufdringlich anregend. Andauernd fallen Sätze, die man aufschreiben möchte. So beispielsweise auf dem Erlanger Poetenfest 2003: "Die Gegenwart bläht sich auf, die ist so ein Angeber." Oder: "Wir alle haben einen Bauern in uns, der ist so etwas wie ein Anker. Auf den können wir uns verlassen." Und schließlich: "Wenn man beunruhigt ist, fängt man automatisch an zu erzählen."

Alexander Kluges Lebenszeit gab von Anfang an Gelegenheit zur Beunruhigung. 1932 wurde er in Halberstadt geboren, das gegen Kriegsende zerbombt wurde. Er studierte Jura, Geschichte und Kirchenmusik, promovierte in Jura, war Mitunterzeichner des "Oberhausener Manifests", das den deutschen Film erneuern half, er beteiligte sich an Kollektiv-Filmen über Terroristen und Staatsmacht ("Deutschland im Herbst", 1978), über die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß ("Der Kandidat", 1980) und über die Raketenkrise von 1982 ("Krieg und Frieden", 1982/83). Auch auf die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und den Anschlag auf das "World Trade Center" reagierte Kluge, ohne doch der Aktualität zu verfallen: "Die Aktualität hat immer etwas Unwirkliches, hat schon Adorno gesagt."

Stattdessen erzählt Kluge lebenslang. In letzter Zeit geradezu unglaublich produktiv. 2001 erschienen zwei Bände "Die Chronik der Gefühle", erst vor zwei Jahren das umfangreiche Buch "Die Lücke, die der Teufel lässt", im letzten Herbst "Tür an Tür mit einem anderen Leben" und jetzt zu seinem 75. Geburtstag die "Geschichten vom Kino", die allerdings über das Gebiet der Zelluloidträume hinaus geht.

Gerade dieses Buch öffnet einen guten Zugang zum Gedankenreich Kluges, kann man in ihm doch den begeisterten Erzähler kennen lernen, den faszinierenden Filmregisseur, den klugen Medientheoretiker, den gewieften Juristen, den neugierigen Interviewer, den beseelenden Sammler und schließlich einen freien Geist, dem am Menschen viel gelegen ist.

Angst vor melodramatischen Effekten kennt Kluge nicht: So erzählt er - und belegt es mit einer Zeichnung - von dem plötzlich erblindeten LKW-Fahrer, der ein halbes Jahr lang mit Hilfe seines Sohnes fuhr, der neben ihm saß: "Das Vertrauen, das beide verbindet, kann man Liebe nennen."

"Vertrauen" und "Liebe", das sind Schlüsselworte für Kluge. Er benutzt sie selbstverständlich und unpeinlich. Wie passt das zusammen mit einem engagierten Künstler, der als Literat, Publizist und Filmemacher Kritik übt am viel zu engen Öffentlichkeitsbegriff, an undemokratischen Gesellschaftsstrukturen, an Geschichtsklitterung? Wie passt es zusammen mit einem, der als gerissener Jurist der anspruchvollen Kultur mit der Produktionsfirma "dctp" einen Platz im Privatfernsehen erstritten hat?

Man könnte sagen, dass die Macht beider Gefühle den Antrieb bildet für seine kritische Existenz. Noch in den Werken, die am stärksten von einer pessimistischen Haltung geprägt sind, ist ein Pathos des Trotzdem zu spüren. Statt mit zynischen oder hoffnungslosen Kommentaren der Apokalypse das Wort zu reden, setzt Kluge auf Erzählen, auf Verständigung, auf geistige Beweglichkeit und den aktiven Part des Lesers oder Zuschauers.

Nicht umsonst sind die meisten seiner Werke in lebendiger Zusammenarbeit mit Vertrauten entstanden, zu denen seine Schwester Alexandra Kluge gehört. Er ist überzeugt: "Bücher schreibt man nicht allein." Das gilt erst recht für Kluges Filme, deren Titel oft sprichwörtlich wurden: "Abschied von gestern" (1966), "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" (1968), "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod" (1974), "Die Macht der Gefühle" (1983) und "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (1985). Es gilt schließlich für die publizistische, die medienpolitische und die Tätigkeit als Theoretiker. Wie sich all das seit Jahrzehnten fruchtbar vermischt, ist so verwunderlich wie ermutigend.

Literarische Werke oder Filme sind für Kluge nicht einfach fertig und abgetan. Sie bilden ein Stoffreservoir für weitere Werke, sie werden überarbeitet und in andere Formen überführt. Fast naturgemäß entwickelte Kluge deshalb eine eigene, untraditionelle Kunstform, die sich in seinen Filmen und Büchern findet und oft prämiert wurde, unter anderem mit dem Kleistpreis: Die Kombination von Bild und Text, von Dokumenten unterschiedlichster Herkunft, erfundenen Tatsachenberichten, Erzählungen, Interviews, Erinnerungen und eigenartig erhellenden Dialogen. Die könnte man "Kluge'sche Dialoge" nennen, denn im Gegensatz zu den Sokrateischen sind sie unironisch, vielmehr verlaufen sie sprunghaft, wirken wach und produktiv verwirrend. In seinen Fernsehinterviews kann man sie zu später Stunde erleben.

Natürlich gibt es sie auch in den "Geschichten vom Kino". Dort endet die Geschichte vom 5000-Plätze-Kino in Taschkent, in dem das "neue Kino" initiiert werden sollte, mit einem angehängten Dialog: "- In jedem Fall hat kein Planer das Kino erfunden, und so wird auch das 'neue Kino', wie immer es aussieht, ohne Planer entstehen. - Aus Versehen? - Wie so vieles Gute."

Kluges Erfahrungen und Geschichten beweisen, dass gerade das Ungeplante, das Zufällige, das aus der Not Geborene, das dem Zwang der Verhältnisse Abgetrotzte immer wieder unvermutet schöne oder positive Ergebnisse zeitigt: "Die Fehler von heute sind die Qualitäten von morgen."

So etwas macht Mut, schärft den Blick, reizt das freie Denken. Es gehört zu dem Projekt "Aufklärung", das Alexander Kluge keineswegs als gescheitert sieht. Vielmehr gelte es immer noch, der erst rhetorisch durchgeführten Aufklärung den menschlich tatsächlichen Vollzug folgen zu lassen. Der wiederum geht bei ihm über reine Rationalität hinaus: "Das Herz hat einen Verstand, den der Verstand selbst nicht versteht, sagt Pascal." Eben deshalb konzentriert sich Kluges Nachdenken und Erzählen nicht auf die große Geschichte. Genauso wichtig, vielleicht wichtiger ist die Sphäre des Alltags, des scheinbar nur Privaten, des Kuriosen und des Übersehenen. In der "Chronik der Gefühle" gibt es einen ganzen Band "Basisgeschichten", von denen Kluge sagt: Sie stammten "aus den Küchen, wo die Energie der Welt herkommt. Die kann man gar nicht genug erzählen."

Wieder ist hier intelligente Menschenliebe zu spüren, Staunensbereitschaft und genau das Gegenteil von intellektueller Arroganz der Masse und ihrem Leben gegenüber. Und dass Kluge Spielerisches, Kombinatorik und Vergnügung in seinem Tun erkennen lässt, beeinträchtigt weder seinen Ernst noch sein gedankliches Niveau.

An Energie mangelt es ihm so offensichtlich nicht, dass man ihm zum 75. außer einem Glückwunsch ein freches "Mehr, mehr!" entgegen schleudern kann. Er wird es zu verstehen wissen, äußerte er doch einmal den schönen Satz: "Um seiner selbst willen belohnt zu werden, das leuchtet jedem Menschen ein."


Titelbild

Alexander Kluge: Geschichten vom Kino.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
350 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419045

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