Besichtigung einer Forschungslücke

Exposé eines ungeschriebenen Buches zum Thema "Arno Schmidt und das 'Dritte Reich'"

Von Gregor StrickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gregor Strick

Selbst heute, 62 Jahre nach dem Ende der Hitlerdiktatur, scheint es, als sei das Thema "Die Schriftsteller und das 'Dritte Reich'" nur im Modus des Skandals verhandelbar. Wie lang die Schatten der Vergangenheit fallen und wie routiniert dieser Sachverhalt heute instrumentalisiert wird, haben in letzter Zeit die Literaturskandale um Martin Walser und um Günter Grass gezeigt. Es scheint geradezu ein Skandal-Reflex zu herrschen, den die Medien und die jeweiligen Protagonisten nach Belieben auslösen und nach den Maßgaben zynischer Vernunft ausbeuten können. Dabei dürfte es auf der Hand liegen, dass die Optik der Skandalisierung, der medialen Hysterie zwar der Publicity und dem Absatz dient, aber ethisch verheerend ist und den Blick auf die Sache trübt.

Worauf beruht der geschilderte Reflex? Aus welchen geschichtlichen Voraussetzungen schlägt er Kapital? Hier ist - als Initialzündung der vielkritisierten Verleugnung der jüngeren Geschichte in der Bundesrepublik - vor allem der Mythos der "Stunde Null" zu nennen. Dieser Mythos leugnet die Kontinuitäten zwischen dem nationalsozialistischen und dem bundesrepublikanischen Deutschland. Er spricht die Deutschen im Allgemeinen und die deutschen ("Kahlschlag"-)Schriftsteller im Besonderen von historischer Schuld frei. Somit konnten die Autoren der Nachkriegszeit der Frage ausweichen, ob der Nationalsozialismus nach wie vor Idee und Praxis ihres Werks beziehungsweise ihr persönliches Verhalten tangiere. Diese von vielen praktizierte Strategie des Ausweichens - letztlich nichts weiter als eine Form der Selbstidealisierung - legte den Grund für die bis heute bestehende Brisanz des Themas.

Bei der weitverbreiteten Spezies der reinen Genussleser wird sich angesichts dieser Verhältnisse eine gewisse Scheu einstellen. Bewusste und offene Lektüren könnten Dinge ans Licht fördern, die einem den Autor und seine Werke verleiden, ebenso den Selbstgenuss, der aus der Identifikation mit dem geschätzten Autor folgt. Das dürfte auch ein Hauptgrund für eine Forschungslücke sein, die die Arno-Schmidt-Philologie zu beklagen hat. Das Thema "Arno Schmidt und das 'Dritte Reich'" wurde erst in wenigen, punktuellen Anläufen behandelt, obwohl es für Autor und Werk in offenkundiger Weise von großer Wichtigkeit ist. Alle Beiträge zum Thema stammen bezeichnenderweise von Wissenschaftlern, das heißt von Lesern, die - wenn nötig - instrumentelle Distanz zu Autor und Werk zu wahren wissen. Leider verirren sich in die von Amateuren beherrschte Schmidt-Philologie nur selten solche professionellen Leser. Was offene, vorurteilslose Lektüren erschwert, sind nicht zuletzt die Selbstbilder, die Schmidt von Beginn seiner Karriere an in Umlauf gebracht hat - etwa das Bild des Einzelgängers, des radikal Anderen oder auch das Bild des Avantgardisten und radikalen Modernisierers: Wer radikal individuell und modern ist, kann doch vom kollektivistischen, modernitätsfeindlichen Nationalsozialismus nicht infiziert gewesen sein?

Jetzt, knapp 30 Jahre nach Schmidts Tod, fährt sich die Schmidt-Philologie in einer bereits länger anhaltenden Phase der Stagnation fest. Es handelt sich dabei um eine Selbstlähmung, die unter anderem auf die Unzulänglichkeit langjährig praktizierter Herangehensweisen zurückgeht. Dazu zählen besonders das unkritische Befolgen der interpretatorischen Weisungen des Autors und die faktenmäßige Einzelstellen-Auswertung des Werks ohne System und Analyse. Grundsätzlich nachteilig wirkt sich die in Schmidt-Kreisen kursierende Auffassung aus, der literarische Text sei etwas zu Dechiffrierendes, also nicht der eigentliche Gegenstand der Betrachtung und könne daher nach Belieben ignoriert werden. Wo aber das Werk übergangen wird, kann es nichts geben, was den Namen Werk-Deutung verdiente. Die Vermutung liegt nahe, dass sich hier die instinktive Weigerung des Leserkollektivs niederschlägt, das Thema "Schmidt und das 'Dritte Reich'" zu bearbeiten. Wenn das Werk jedoch von nationalsozialistischen Kontaminierungen durchtränkt ist und man dies nicht zur Kenntnis nimmt, dann muss auch der Blick auf seinen literarischen Wert verstellt werden. Man kann es dann allenfalls noch reduktiv, als Einzelstellen-Sammelsurium und Fakten-Urwald wahrnehmen, wobei man die Fokussierung auf unverfängliche Stoffe beschränkt. Den Fingerzeigen des Autors zu folgen, etwa denen, die er durch sein freizügig mitgeteiltes Selbstbild gegeben hat, kann lediglich zu affirmativen Reproduktionen führen. Auf dem Weg gerät man unweigerlich in die Fallen, die einem der Autor gestellt hat. Diese Rezeption ist bei Schmidt-Lesern - besonders älteren - jedoch notorisch, da nicht wenige von ihnen mit ihrem Autor in einer stark ausgeprägten Ich-Symbiose zu leben scheinen.

Aus dieser Gesamtlage versucht sich die ,Schmidt-Gemeinde' nicht durch Distanznahme und Reflexion herauszuhelfen, sondern hält an den von Schmidt vorgegebenen Denkmustern fest. Außerdem zieht sie sich auf den einzigen Spielplatz zurück, den die zynische Vernunft heutigen Konsumenten zugestehen will: auf den Fun. Der letzte Schrei der innergemeindlichen Rezeption ist es, Schmidt als leichtverständlichen Autor zu betrachten, dessen Texte sich gänzlich untiefenlos lesen ließen, nur so zum Spaß. Dieser Spaß ist teuer erkauft: durch Blindheit. Es ist eine vorsätzliche Blindheit, denn wo man das Vergnügen der Oberflächlichkeit betonen muss, gesteht man das Vorhandensein missvergnüglicher Untergründe ein. Und dass Schmidt bis dato immer - vielleicht ja sogar zu Recht? - als anspruchsvoller Autor galt, dessen Leser einen Kult des Schwierigen treiben müssten, scheint plötzlich ganz vergessen zu sein. Unerklärlich bleibt so auch der in vielerlei Publikationen und Tagungen investierte Aufwand, den die Schmidt-Philologie getrieben hat, um den ,spaßigen Arno' einem heiteren Publikum zugänglicher zu machen.

Um das Thema "Arno Schmidt und das 'Dritte Reich'" weiter einzukreisen, möchte ich von einem gescheiterten Buchprojekt berichten. Das Buch sollte das genannte Thema quer durch Schmidts Werk hindurch in Grundzügen kenntlich machen. Die Prämisse der Untersuchung war, dass das "Dritte Reich" die historische Voraussetzung von Schmidts Texten bilde und sich im ganzen Werk nachvollziehen lasse. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, so lautete meine These, habe nach 1945 Schmidts "Selbstinszenierung" als politischer Autor bestimmt, sein Geschichtsbild geprägt und sich in den Strukturen seiner Texte niedergeschlagen.

Die Themenstellung enthält bereits zwei grundlegende Probleme: Das Wort "Schmidt" kann für die Person oder für das Werk stehen. In welches Verhältnis aber sollte man Werk und Leben stellen? Muss man beide trennen? Das zweite Problem liegt in dem Wort "und": "Schmidt und [...]"-Themen sind in der Schmidt-Philologie breit vertreten und richten sich in beschriebener Weise auf die in den Texten verarbeiteten Materialien - nicht aber auf literarische Strukturen. Analysen Schmidt'scher Textstrukturen sind daher ausgesprochene Mangelware, und das, obwohl die Texte ihre "Literaturhaftigkeit" doch so auffällig zur Schau tragen. Nun hatte ich in meiner Untersuchung vor, die Sichtung des Materials - des Nationalsozialismus und des Krieges als literarische Stoffe - und der Textstrukturen aufeinander zu beziehen, was um so schwieriger ist, als es hier kaum Vorgängerarbeiten gibt. Anders gesagt: Eine Untersuchung, die Schmidts Gesamtwerk ins Auge fasst, gleichgültig welchen thematischen Zuschnitts, dürfte sich schon angesichts des allgemeinen Stands der Schmidt-Philologie als ein allzu kühnes Vorhaben erweisen.

Zurück zu der Frage, in welche Relation man Werk und Leben bringen sollte. Hätte man die Biografie des Autors ignorieren und sich nur dem Werk zuwenden sollen? Oder auch umgekehrt: nur Biografie, aber kein Werk? Auf diese Frage habe ich keine ganz schlüssige Antwort gefunden, weil bei Schmidt Werk und Leben, genauer: Text-Ich und Autor-Ich besonders eng verknüpft zu sein scheinen. Es stellte sich mithin die Frage, wo die biografische Äußerung aufhört und wo das Werk anfängt. Briefe Schmidts, Tagebuch-Einträge et cetera scheinen klar biografisch zu sein, obwohl es zwischen solchen Quellen und dem Werk die Brücke einer recht lautstarken "Selbstinszenierung" gibt. Äußerungen Schmidts zur eigenen Person in Zeitungsartikeln mögen noch als biografisch gewertet werden, aber wie steht es mit den Selbstauskünften des Sprechers "A" in Schmidts Funkessays oder gar der "Ichs" in den erzählerischen Texten? Die Funkessays würde ich eher Schmidts ästhetischer, das heißt im weitesten Sinn fiktionaler Produktion zurechnen, also wären Aussagen aus diesen Quellen wie verwertbar? Jedenfalls nicht als Tatsachenaussagen? Aber auch nicht als fiktionale Konstrukte? Und das erzählerische Werk? Ich hätte es, wie das manche Schmidt-Philologen tun, nicht als biografisches Protokoll missdeuten wollen. Für eine biographische Erforschung des Themas "Schmidt und 'Drittes Reich'" sollten, davon einmal abgesehen, idealerweise alle relevanten Archivalien, das heißt alle Briefe Schmidts et cetera, in veröffentlichter Form herangezogen werden können. Soweit wird es auf absehbare Zeit nicht kommen. Wie die Dinge liegen, wäre zunächst auch die von der Bargfelder Arno Schmidt Stiftung angekündigte Schmidt-Biografie Bernd Rauschenbachs abzuwarten.

Angesichts der prinzipiellen Brisanz des Themas "Drittes Reich" hätte man bei der Abgrenzung von Schmidts Leben und Werk klare Einschätzungen vertreten müssen. Aus den skizzierten methodischen Zwickmühlen schien sich nur ein eindeutiger Ausweg anzubieten: die getrennte Betrachtung. Am ehesten hätte sich Schmidts Selbstinszenierung zur Grundlage einer Untersuchung machen lassen, die Leben und Werk verbindet. Das wäre aber aus zwei Gründen fragwürdig gewesen. Erstens: Selbstinszenierung ist an eine Person gebunden, würde als interpretatorische Kategorie also die Perspektive auf das Werk, auf dessen ästhetische Strukturen personal einengen oder sogar verbauen. Zweitens: Es macht einen gewichtigen Unterschied, ob in einem biografischen Dokument oder in einem fiktionalen Text "inszeniert" wird.

Ein Beispiel: In dem Essay "Der Schriftsteller und die Politik." von 1956 stellt sich Schmidt als eingefleischten Oppositioneller dar, der schon im Alter von 15 Jahren - also 1929 - zur Fahne der Zivilcourage und der kritischen politischen Schriftstellerei Voltaires geschworen habe. Diese Selbstinszenierung, Schmidts Variante des Mythos der "Stunde Null", ist nichts weiter als autobiografische Geschichtsklitterung. Die aus den Jahren vor 1945 überlieferten Dokumente - die "Juvenilia" und die biografischen Zeugnisse in dem von Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach herausgegebenen Sammelband "'Wu Hi?' Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg" - zeigen Schmidt als politisch desinteressierten, sich in einem privaten Bücher-Idyll verschanzenden Spätromantiker, mit anderen Worten: als eskapistischen Mitläufer. Gegenüber dieser Selbstinszenierung im Leben ist die im Werk grundsätzlich geräumiger. Wenn beispielsweise in Schmidts Erzählung "Goethe und Einer seiner Bewunderer" von 1956 ein Schriftsteller namens "Arno Schmidt" als Diesseitsführer des für kurze Zeit aus dem Reich der Toten in die Gegenwart reisenden Goethe in Frage kommen kann, so enthält auch diese Konstellation ein Element der Exkulpierung: Obwohl "Schmidts" Vergangenheit in die Jahre 1933-45 fällt, ist er doch integer genug, um als Partner des schlechthin humanistischen Klassikers Goethe auftreten zu können. Diese Inszenierung lässt sich jedoch nicht einfach als Schuldverweigerung abtun, da sie im Fiktionalen angesiedelt ist, das heißt keinen Anspruch auf faktische Wahrheit erheben kann, zumal sie im Modus der Satire mitgeteilt wird. Der letzte Satz der Erzählung kann sogar selbstkritisch interpretiert werden: "((Immerhin: in'n Hintern getreten hatte er [Goethe, G. S.] mich nicht. Nich direkt.))."

Um kurz auf die Frage einzugehen, welches Bedürfnis hinter Schmidts wohlinszenierten Selbstexkulpierungen steckt: Es scheint, dass sich hier nicht der Wunsch äußert, Scham oder Schuldgefühle abzuarbeiten, sondern die Befürchtung, die "deutsche Vergangenheit" könne der eigenen Laufbahn schaden. Ein Indiz ist hier, dass Schmidt das "Dritte Reich" in seiner "Dankadresse zum GoethePreis 1973" lediglich als ein Karrierehindernis darstellt. Diesem Hindernis sei der reguläre Beginn seiner literarischen Entwicklung zum Opfer gefallen (somit auch ein gewisser, nie mehr wirklich aufzuholender Rückstand schriftstellerischen Könnens). Weitere Indizien liefert Schmidts Behauptung, nach der er kein Mitläufer, sondern Oppositioneller gewesen sei. Hinter dieser Konstruktion versteckt sich - so meine Hypothese - die Befürchtung, man könne als deutscher Schriftsteller in literaturkritische Sippenhaft genommen und schon qua nationaler Zugehörigkeit als untauglich diskriminiert werden. Einerseits ist das eine Projektion der Urteilsstrukturen Schmidts, der andere Nationen häufig ähnlich vorschnell abwertete. Andererseits waren "die Deutschen" in der unmittelbaren Nachkriegszeit ja tatsächlich von den Alliierten kollektiv geächtet worden. Für Schmidt, der schon früh den Rang eines Klassikers der Weltliteratur anstrebte, wird dies ein schockierendes Erlebnis gewesen sein. Von daher würde sich jedenfalls seine massiv antideutsche Polemik erklären, nach der die Deutschen auch unter Adenauer zu fast hundert Prozent unverbesserliche Nazis seien. In der Kritik der Zeitgenossen läge dann der Beweis der eigenen Andersheit, eine eigenhändige Entnazifizierung. Im Bekenntnis zu dem Franzosen Voltaire würde sich die Lossagung von den Deutschen und ihrer Geschichte dokumentieren, die nicht die eigene sei. Der Weg ins literarische Pantheon wäre damit frei. Um Schmidts Inszenierungsstrategie herauszuarbeiten, wäre auch seine Literaturkritik zu betrachten gewesen, in der er sozusagen kraft eigener politisch korrekter, "undeutscher" Gesinnung anderen Autoren - etwa Karl May - quasi- oder prä-nazistisches Gedankengut vorhält.

Wollte man im vorliegenden Fall einen Skandal sehen, so läge er nicht in Phasen nationalsozialistischer Verirrung - wie bei Benn -, in begangenen Gräueltaten oder in lange verschwiegener Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen (obwohl Schmidt seinem Freund Heinz Jerofsky im November 1933 per Postkarte mitteilt, er habe der SS beitreten wollen, sei aber leider nicht angenommen worden). Der Skandal läge in der egozentrischen Unbefangenheit, mit der Schmidt auf der Klaviatur der Inszenierungen und Mythen spielt, auch in der Bigotterie, mit der er deutsche Exkulpierungsstrategien - "Stunde Null", eigener Opferstatus, (unmerkliche) Opposition - kopiert oder abwandelt, obschon er typisch Deutsches sonst so weit von sich weist.

Ein Abschnitt der geplanten Untersuchung hätte sich mit Schmidts Geschichtsbild als einem Kapitel "deutscher Ideologie" beschäftigen müssen. Schmidts Geschichtsbild, ein bruchstückhaftes, auf eine ganze Reihe seiner Texte verstreutes Konstrukt, ist ahistorisch: Geschichte ist demnach die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Das heißt, Geschichte gibt es gar nicht, sondern nur die stetige Reduplikation eines Grundmusters: Gewaltherrscher erschaffen totalitär organisierte Staaten und führen Kriege gegen andere Gewaltherrscher, um sich deren Territorien anzueignen, mit dem Ziel totaler, weltweiter Herrschaft. So gesehen ist Faschismus nichts weiter als die unverrückbare Konstante der Welt-"Geschichte". Auch Hitlers Diktatur ist dann allenfalls ein historischer Modellfall, aus dem sich, folgt man Schmidts Erzählung "Leviathan oder Die beste der Welten" von 1949, gar das Wirken eines urbösen Weltgeistes beweisen ließe. Die Demokratie ist dann, denkt man so weiter, auch nur getarnter Faschismus. "Die Masse" ist demnach, frei nach Gustave Le Bon, ewig unmündig und gewaltbereit und muss von großen Einzelnen "geführt" werden. (Schmidt lehnte die Demokratie, trotz mancher Lippenbekenntnisse, im Grunde konsequent ab.)

Der einzige, allerdings zum Scheitern verurteilte Opponent der Macht ist laut Schmidt der Geist, der sich in "guten" Führern, in Wissenschaftlern und Künstlern heroisch gegen die bestehenden Verhältnisse erhebt, und sei es nur auf ideeller Ebene. Mit seinem statischen Geschichtsentwurf schreibt Schmidt die Verhältnisse, die überwunden werden müssten, fest, ja er affirmiert sie. Ferner spricht er die geschichtlichen Akteure auf diese Weise von ihrer Verantwortung frei - sie können ja gar nicht anders, als das ewiggleiche Böse weiterzutragen. Und die "Masse" wird von ihnen ohnehin entmündigt.

Nicht nur damit, sondern auch mit seiner metaphysischen Geschichts-Statik fällt Schmidt hinter das Paradigma der Aufklärung zurück, das er sonst so nachdrücklich für sich beansprucht. Schmidt verschließt sich zuletzt der Einsicht, dass auch der Geist sich nur oft allzu bereitwillig in den Dienst der Macht stellt - eine Erfahrung gerade der Jahre 1933-45. Es scheint, dass die neuere deutsche Geschichte in Schmidt kein Umdenken bewirkt hat.

In der Analyse des erzählerischen Werks, die den Hauptteil der projektierten Untersuchung hätte ausmachen sollen, wollte ich Schmidts Bearbeitung des Themas "Drittes Reich" an den Motivkreisen "Reich" (inneres Reich, Reich der Dichtung) und "Führer" (Dichter als Führer, "Ritter vom Geist") aufhängen. Mir schien, dass Schmidt diese beiden von den Nazis aufgegriffenen Topoi wieder ins Kulturelle umdeuten und nicht nur literarisch, sondern auch ethisch-politisch rehabilitieren wollte, vagen Ideen der "Konservativen Revolution" folgend. Was die Topoi "Reich" und "Führer" angeht, bin ich in Schmidts Werk von den "Juvenilia" bis hin zu dem fragmentarisch veröffentlichten letzten Roman "Julia, oder Die Gemälde" auf eine wahrhaft ungeheure Menge von Textbelegen gestoßen. Schmidt variiert diese Topoi in unterschiedlichen Textprojekten auf vielfältige Weise. In dem Sammelband "Kühe in Halbtrauer" (1964) etwa wird der Topos des geistigen Führers nachhaltig dekonstruiert, wenn auch nicht aufgegeben; in "Zettel's Traum" (1970) steht er in Gestalt des Großschriftstellers Daniel Pagenstecher - trotz dekonstruktiver Reste - in alter charismatischer Pracht wieder auf. Der Topos "Reich" (ästhetisches versus politisch-gesellschaftliches Reich) verklammert so unterschiedliche Texte wie die "Dichtergespräche im Elysium" von 1940/41 und "Abend mit Goldrand" von 1975. Und so weiter. Die Variationen und Überschneidungen der Topoi wären im Kontext der jeweils unterschiedlichen Textprojekte Schmidts und deren historischer Hintergründe zu zeigen gewesen. Übrigens schließen sich Schmidts literarische Texte durchweg nicht dem Mythos der "Stunde Null" an, sondern zeichnen Bilder der Kontinuität zwischen "Drittem Reich" und BRD/DDR.

Schmidts Werk der Nachkriegszeit kennzeichnet ein Oszillieren zwischen Restauration und Avantgarde. Schmidt benutzt den Motivfundus des "Dritten Reichs" als Bildspender, restauriert dessen Strukturen in neuer, avantgardistischer Form. Dieser Zwiespalt zwischen Reproduktion und Distanznahme, der darüber hinaus von Text zu Text unterschiedlich zu akzentuieren ist, untergräbt von vornherein klare Einschätzungen. Eine ähnliche, schwer zu durchdringende Widersprüchlichkeit beherrscht Schmidts literarischen Humor. Gehört Schmidts Werk, wie Jan Philipp Reemtsma erwägt, zu den seltenen Hervorbringungen der Weltliteratur, in denen sich Entsetzen in Komik transformiert, ohne dass das Entsetzliche geleugnet würde? Oder sind Lektüren denkbar, für die gerade Schmidts Komik in Entsetzen mündet? Wirkt Schmidts Humor subversiv und decouvrierend, macht er traumatisch nicht Sagbares sagbar - oder verschleiert er das Entsetzliche, depotenziert er es, macht er es konsumierbar? Die ,Schmidt-Gemeinde' scheint sich mehrheitlich für Letzteres, für den blinden Fun entschieden zu haben. Das heißt wohl zum Mindesten: Schmidts humoristische Darstellung lässt historische und ideologische Blindheit zu.

Zum Abschluss dieser Besichtigung einer Forschungslücke möchte ich nach den inhaltlichen auf die pragmatischen Schwierigkeiten meines Projekts zu sprechen kommen. Schon rein von der Quantität des Materials her hat mich die Verzweiflung ergriffen: Wer sollte das alles abarbeiten? Ferner hätte ich neben meiner literaturwissenschaftlichen Qualifikation Kenntnisse in der NS-Historiografie und in der kulturgeschichtlichen Erforschung der deutschen "Vergangenheitsbewältigung" mitbringen müssen, um Schmidts Selbstkonstruktion als politischer Autor in die ästhetischen und politischen Diskurse der Nachkriegszeit einordnen zu können. Angesichts der Fülle der entsprechenden Spezialliteratur habe ich hier irgendwann kapituliert.

Überhaupt hätte ich dieses Projekt neben meiner beruflichen Arbeit her - auch wenn es weniger weitausholend formuliert gewesen wäre - nicht bewerkstelligen können. Da ich nicht wie eine Thomas Bernhard'sche Figur enden wollte, die für den Rest eines bitteren Lebens an einer unabschließbaren "Studie" festklebt, habe ich das gesammelte Material, eine kleinere Umzugskiste voller Karteikarten und Kopien, in einem Anfall von Resignation ins Altpapier gekippt. Hinterher war ich sehr erleichtert.

Heute, Jahre später, denke ich, dass ich vielleicht einen Fehler gemacht habe, da das zu bearbeitende Thema im Lauf der Zeit immer aktueller zu werden scheint. Die Vergangenheit ist längst nicht "bewältigt".