Glücklich in Paris

Hans Mayer und Frankreich - Zum 100. Geburtstag des Literaturwissenschaftlers

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Wenn sich am 18. März 2007 der Geburtstag von Hans Mayer (1907-2001) zum 100. Male jährt, so wird in den anlässlich dieses Jubiläums erscheinenden Würdigungen des "Deutschen auf Widerruf", wie Mayer sich in seiner 1982/84 erschienenen zweibändigen Autobiografie bezeichnete, mit ziemlicher Sicherheit und mit aller Berechtigung - wie bereits in den zahlreichen Artikeln und Aufsätzen, die sich noch zu seinen Lebzeiten mit ihm auseinandersetzten und in den vielen Nachrufen, die nach Mayers Tod am 19. Mai 2001 erschienen - die Rede sein vom "Nestor der deutschen Literaturwissenschaft", vom "begnadeten Redner", vom "Aufklärer und Außenseiter" und vom "Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts".

Ein in der Regel und zu Unrecht vernachlässigter Aspekt der Biografie, des Werkes und der Wirkungsgeschichte Hans Mayers soll im Folgenden kurz skizziert werden, gewissermaßen als Prolegomena zu einer noch ausstehenden größeren Studie: Hans Mayer und Frankreich.

In der stetig anwachsenden Sekundärliteratur zu Hans Mayer sind sein Frankreich-Diskurs, seine Beziehungen zu Frankreich und zu den Franzosen und vor allem seine zahlreichen Schriften mit Frankreichbezug bislang unzureichend behandelt worden, obwohl sich der gesellschafts- und literaturwissenschaftlichen deutsch-französischen Beziehungs- und Perzeptionsforschung im Falle Mayers ein weites Feld bietet.

Über seine Exiljahre (1933 bis 1945) in Frankreich und der Schweiz hat Mayer ausführlich im Kapitel "Über die Grenzen" des ersten Bandes seiner Autobiografie geschrieben. Dort erzählt der als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Köln geborene Mayer, der sein Studium der Staats- und Rechtswissenschaften 1930 mit einer juristischen Dissertation bei Hans Kelsen abschloss, wie er, als Marxist, Jude und Homosexueller von den Nazis gleich dreifach existenziell bedroht, nach seiner Entlassung aus dem juristischen Staatsdienst im August 1933 über Belgien und Luxemburg nach Frankreich emigrierte und nach "Anfängerübungen in der Illegalität", wie er rückblickend formulierte, zunächst in Straßburg und anschließend (ab Februar 1934) in Paris lebte.

1934 bis 1939 hielt sich Mayer abwechselnd in Paris und im schweizerischen Genf auf. Seinen Lebensunterhalt bestritt er vorwiegend mit journalistischer Arbeit und in der Regel unter Pseudonym veröffentlichten Artikeln, zum Teil in - Mayers eigenen Angaben zufolge erst im Exil wirklich gelernter - französischer Sprache. Mayer schrieb im französischen und später schweizerischen Exil unter anderem Beiträge für die deutschsprachige Straßburger Zeitung "Neue Welt", die Exilanten-Zeitung "Pariser Tageblatt", das französischsprachige Genfer Sozialistenblatt "Le Travail", Schweizer Zeitungen und Zeitschriften wie "Der Bund", die "National-Zeitung" und die "Neue Schweizer Rundschau". In Paris hatte er zudem zeitweise einen Forschungsauftrag von Max Horkheimers Institut für Sozialforschung und publizierte in der "Zeitschrift für Sozialforschung"; später erhielt er in Genf ein Forschungsstipendium des vom Völkerbund finanzierten Hochschulinstituts für Internationale Studien.

Von 1935 bis 1938 arbeitete Hans Mayer, der von Haus aus kein Literaturwissenschaftler war, sondern - wie erwähnt - promovierter Jurist war und ursprünglich eine staatsrechtliche Habilitation plante, an seiner großen germanistischen, methodologisch vor allem der Literatursoziologie eines Georg Lukács verpflichteten Studie über "Georg Büchner und seine Zeit", die kriegsbedingt erst 1946 im Druck erscheinen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte Mayers Büchner-Buch, in dem unter anderem erstmals die französischen Quellen zu Büchners Drama "Dantons Tod" untersucht wurden, für Aufsehen in der germanistischen Zunft. Mit "Georg Büchner und seine Zeit" hatte Mayer der alten Geistesgeschichte und den rein werkimmanenten Methoden eine klare Absage erteilt und stattdessen das Muster einer komparatistisch orientierten literatursoziologischen Untersuchung vorgelegt, die ihm schließlich 1948 nach einem Intermezzo als Rundfunkjournalist in Frankfurt am Main (1945-1948) den Ruf auf einen Lehrstuhl für Deutsche Literaturgeschichte und Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig einbrachte, wo er unter anderem eng mit dem aus sozialistischer Überzeugung von Marburg nach Leipzig gewechselten Romanisten Werner Krauss zusammenarbeitete. Den Leipziger Lehrstuhl bekleidete Mayer bis 1963, dann kehrte er der DDR den Rücken und lebte und lehrte fortan in Hannover und Tübingen.

Doch zurück zu Mayers Exiljahren in Frankreich. Sie endeten im Juli 1939, als Mayer von einer Reise nach Genf nicht mehr nach Frankreich zurückkehren durfte und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz lebte, zeitweise gar in Internierungslagern. In seiner Autobiografie erinnert er sich mit Wehmut an die Pariser Zeit in seinem Leben. Denn, so Mayer wörtlich: "Glücklich war ich damals in Paris, wie kaum wieder in späteren Jahren."

Mayer genoss das von gesellschaftlichen und beruflichen Zwängen freie Leben eines Bohemiens, hielt sich von den Exilantenkreisen weitgehend fern und vertiefte sich stattdessen in die französische Kultur. Er scheint, so legt es zumindest seine Autobiografie nahe, die Atmosphäre und das Lebensgefühl in Paris am Vorabend des Zweiten Weltkrieges geradezu in sich aufgesogen zu haben. Mayer entdeckte Proust und seine "Recherche" für sich, begeisterte sich für Jean Giraudoux und Jean-Paul Sartre, zu denen er den persönlichen Kontakt suchte, war ständiger Besucher der Pariser Theater, nahm an den letzten von Paul Desjardins organisierten "Dekaden von Pontigny" teil und fühlte sich in Paris schlichtweg wohl und heimisch. Für den deutsch-jüdischen Exilanten stand damals fest, es sei "nur die französische Welt ernstzunehmen."

In seiner Autobiografie beschreibt er seine zunehmende "Französierung" wie folgt: "Indem ich französisch sprach, dann schrieb, schließlich dachte, fühlte ich neue Möglichkeiten nicht bloß einer Profession, sondern einer Existenz. Wenn ich einen französischen Essay entwarf über die Poetik von Paul Valéry [...] oder französische Gedichte konzipierte, einfach als Etude, so barg sich dahinter nur die Negation meiner deutschen Ursprünge. Es kam aber darauf an, keine synthetische neue Identität anzustreben, wie das Klaus Mann als amerikanischer Schriftsteller versuchte, und viele emigrierte Wissenschaftler, die neu und in neuer Sprache studierten, sondern eine Synthese aus Köln und Straßburg und Genf, aus Juristerei, Sozialphilosophie und Literaturgeschichte."

Mayers wohl prägendste und nachhaltigste Erfahrung im Pariser Exil waren seine Kontakte und Begegnungen mit den Repräsentanten des "Collège de Sociologie", die er 1938 und 1939 regelmäßig sah. Auf diesen Zusammenschluss vornehmlich französischer, aber auch exilierter Intellektueller und Sozialwissenschaftler, zu denen unter anderem Roger Caillois, Georges Bataille, Michel Leiris und Walter Benjamin gehörten, und denen es, so Mayer, "um das Beziehungsgeflecht zwischen Mythos und Aufklärung" gegangen sei, war Mayer durch eine im Oktober 1938 in mehreren französischen Zeitungen veröffentlichte "Erklärung des Collége de Sociologie über die internationale Krise" aufmerksam geworden. In dieser "Erklärung", einer Reaktion auf das Münchener Abkommen vom Oktober 1938, fordert das "Collège", so heißt es im Schlusspassus, "alle diejenigen auf, denen die Angst die Erkenntnis vermittelt hat, dass die Menschen sich zusammenschließen müssen, sich der Arbeit des Collège anzuschließen: in vollem Bewusstsein, dass die gegenwärtigen Formen ganz und gar verlogen sind, und dass es notwendig wurde, eine Form der kollektiven Existenz wiederherzustellen, jenseits aller geographischen und sozialen Begrenzungen. Eine Existenz, die es den Menschen erlaubt, ein bisschen Haltung zu bewahren im Angesicht des Todes."

Mayer suchte umgehend direkten Kontakt mit den Verfassern der "Erklärung". Er fand sich in seiner Hoffnung bestätigt, dass er "hier an die richtigen Leute kommen würde". Am 18. April 1939 hielt er beim "Collège" in französischer Sprache einen Vortrag über die Riten der politischen Geheimbünde in der deutschen Romantik, in dem er die Verwurzelung nationalsozialistischer Mythen von einem großdeutschen, einheitlichen Reich in der deutschen Romantik und die Herkunft der Gemeinschaftsmuster der Nazis bei den Burschenschaften aufzeigte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und damit Mayers Exil in der Schweiz bedeutete das Ende seiner Zusammenarbeit mit dem "Collège de Sociologie". Mit ihren Protagonisten blieb Mayer aber auch nach Ende des Krieges in Kontakt.

Nachdem er im Herbst 1945 nach Deutschland zurückgekehrt war und in Frankfurt als Rundfunkjournalist und Publizist tätig war, veröffentlichte er zwei schmale Broschüren, in denen er sich dezidiert mit "französischen Zuständen" auseinandersetze. 1945 erschien beim Aehren Verlag in der Schweiz innerhalb der Schriftenreihe "Über die Grenzen" der 72 Seiten umfassende Band "Von der Dritten zur Vierten Republik. Geistige Strömungen in Frankreich (1939-1945)". Und 1947 erschien in der Frankfurter Schriftenreihe "Forum Academicum" Mayers in diesem Jahr an den Universitäten Frankfurt, Marburg, Heidelberg und Leipzig gehaltener Vortrag "Frankreich zwischen den Weltkriegen" im Druck. In diesem Vortrag zeichnet er zum einen die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung im Frankreich der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 nach und beleuchtet zum anderen die deutsch-französischen Kulturbeziehungen von einem supranationalen Standort aus.

Mayers erste Frankreich-Broschüre ist im Wesentlichen eine Zusammenstellung von Artikeln zu französischen Themen, die er während des Zweiten Weltkrieges in Schweizer Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. In den Essays setzt er sich unter anderem mit Jean Renoir, Jean-Paul Sartre, Jean Giraudoux, Vercors und Charles Maurras auseinander. Im Vorwort berichtet er, es sei sein ursprünglicher Plan gewesen, eine umfassende "französische Kulturgeschichte der Gegenwart" zu schreiben. Wörtlich heißt es: "Aus allen Elementen, die hier vereinigt sind - und noch vielen anderen -, sollte einmal eine französische Kulturgeschichte der Gegenwart entstehen. Sie hätte keines der wertvollen Frankreichbücher ganz ersetzen können, aber dafür vielleicht manches Moment aufgewiesen, das anderswo fehlt; es sollte wissenschaftlicher, weniger verspielt und verliebt sein, als die Bücher Distelbarths oder gar Sieburgs; weniger inventarisierend und stärker beteiligt als Bergsträsser; nicht so ausschließlich literarisch und geistesgeschichtlich wie Ernst Robert Curtius. Daraus ist nun nichts geworden. Während der 'drole de guere' bereits, die den eigentlichen totalen Krieg erst einleiten sollte, gingen Manuskripte und Dokumente in Paris verloren. An neues Beginnen oder Fortsetzen der Arbeit war nicht zu denken."

Falls es wirklich stimmt, dass Mayer ein großes Frankreich-Buch plante - in seiner Autobiografie erwähnt er diesen Plan jedenfalls nicht -, so ist das Nichtzustandekommen dieses Projektes ausgesprochen bedauerlich. Ein Frankreich-Buch aus der Feder Mayers wäre gewiss ein Schlüsselwerk der deutschen Frankreich-Literatur geworden. Dies legen nicht nur die oben erwähnten Veröffentlichungen nahe, sondern auch die zahlreichen Aufsätze zu französischen Autoren (insbesondere der Aufklärung und des Realismus sowie zu Sartre, zu dem Mayer 1971 ein eigenes Buch mit "Anmerkungen zu Sartre" vorlegte) sowie seine Übersetzungen von Werken Louis Aragons und Sartres. Wenn der 1993 von Jack Lang zum "Officier dans l´Ordre des Arts et des Lettres" ernannte Mayer, dessen zahlreiche Bücher zur Zeitgeschichte, zur Literatur und zur Musik größtenteils auch ins Französische übersetzt wurden, schon kein eigenes umfangreiches Buch über Frankreich veröffentlichte, so wäre es umso wünschenswerter, seine vielen verstreut erschienenen Arbeiten zur französischen Literatur und zu sonstigen Themen mit Frankreichbezug endlich einmal als Sammelband zu bündeln. Mayers 100. Geburtstag bietet dazu den passenden Anlass.

Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes ist erschienen in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog. 63. Jg., 2007, Ausgabe 1 (Februar), S. 66-68