Literatur und Fallobst

WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen reagieren auf Ingeborg Bachmann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hat zwar schon davon gehört, dass ein Mann seine Frau für einen Hut gehalten habe, nicht jedoch davon, dass eine Schriftstellerin von RezensentInnen oder von der Literaturwissenschaft mit einem Apfel oder anderen einer Frucht verwechselt worden wäre. Nicht nur, dass die Unterschiede zu zahlreich sind, sie sind auch zu augenfällig.

Einer dieser Unterschiede, vielleicht einer der weniger augenfälligeren, besteht darin, dass ein Apfel, bevor er herabfällt, zunächst einmal gereift sein muss. Bei Autorinnen verhält sich dies offenbar ganz anders: Sie reifen entweder oder sie 'fallen'. Beides ist miteinander geradezu unvereinbar. Jedenfalls scheinen dies die Aussagen nahe zu legen, die Marcel Reich-Ranicki und Sebastian Kiefer über die Prosaautorin Ingeborg Bachmann getroffen haben. Denunzierte jener sie mit misogynem Zungenschlag als "gefallene Lyrikerin", so spricht dieser von der Prosaautorin als "der gereiften Bachmann", und sieht gar im "Scheitern der Lyrikerin" die "Voraussetzung ihrer reifen Prosa".

Reich-Ranicki veröffentlichte seine herablassendes Urteil bereits vor mehr als dreißig Jahren und noch zu Lebzeiten der so (anzüglich) Gescholtenen. Seither ist das für einen derart prominenten Literaturkritiker merkwürdig ahnungslose Verdikt in germanistischen Kreisen geläufig. Kiefers Lob der gereiften Autorin hingegen ist noch weithin unbekannt und wurde vor nicht einmal drei Jahren geäußert. Genauer gesagt, im Mai 2004 auf einer Dubliner Tagung zu Ehren der österreichischen Autorin. Den InitiatorInnen gelang es, die wissenschaftliche und künstlerische Beschäftigung mit Ingeborg Bachmann auf das Glücklichste zu verbinden, wurden während des Tagungswochenendes doch nicht nur zahlreiche - in deutscher und englischer Sprache gehaltene - innovative Vorträge renommierter Bachmann-ForscherInnen zu Gehör gebracht, sondern auch zwei der Autorin gewidmete Kompositionen von Julia Tsenova, die unter deren Klavierbegleitung von der Sopranistin Elisabeth Linhart vorgetragen wurde. Vervollständigt wurde das Tagungsprogramm durch eine Solo-Performance Maren Rahmans vom Wiener "Projekt Theater Studio" sowie den Besuch einer der Geehrten gewidmeten Ausstellung von Hans Höller und Erika Thümmel.

Ein nun von Caitríona Leahy und Bernadette Cronin herausgegebener Tagungsband versammelt sowohl die Vorträge wie auch - auf Audio-CD und DVD - die musikalischen und theatralischen Darbietungen. Sara Lennox preist das vorliegende Buch im Vorwort denn auch durchaus zu Recht als "a new kind of reaction to Bachmann".

Lennox' eigene Ausführungen können allerdings nicht immer ganz überzeugen. Genauer gesagt ist es eine ihrer Prämissen, die fragwürdig bleibt. "[M]y own premises demand", erklärt Lennox, "that I regard those readings [die verschiedenen Lesarten von Bachmanns Werken, R. L.] as neither correct nor incorrect, but simply different, advanced to serve a variety of political interests". Nun mag es zwar sein, dass es keine korrekten oder unkorrekten Lesarten gibt. Doch kann man immerhin plausible von weniger plausiblen unterscheiden sowie diverse Kriterien nennen (etwa deren innere Kohärenz), nach denen die jeweilige Plausibilität beurteilt werden kann. Die Annahme, Lesarten seien nichts weiter als "simply different", öffnet - ernst genommen - einer Beliebigkeit Tür und Tor, die das Ende jeden argumentativen Diskurses über literarische Werke bedeutete. Ebenso unbefriedigend und unangemessen wäre es, Lesarten, die wenn auch keinen (alleinigen) Wahrheitsanspruch, aber doch in aller Regel immerhin einen Gültigkeitsanspruch erheben, lediglich mit dem jeweiligen "political interest" der Interpretierenden zu erklären, anstatt oder zumindest ohne zu überprüfen, ob und in wiefern der jeweilige Gültigkeitsanspruch begründet erhoben wird.

Nicht nur Lennox' Vorwort, auch der eine oder andere Beitrag provoziert Widerspruch. So etwa Armen Avanessians Zurückweisung des "vereinnahmenden Zugriff[s] feministischer Lektüren" auf Bachmanns Roman "Malina", dessen "ästhetische[r] Komplexität" die Interpretinnen nicht gerecht würden. Avanessians Kritik blendet aus, dass es auch feministische Analysen gibt, denen dies durchaus gelingt; mehr noch, dass es in den letzten Jahren gerade Arbeiten dieser Provenienz waren, welche die Bachmann-Forschung voran brachten. Hätte Avanessian die Publikationslisten der weiblichen Beitragenden des vorliegenden Bandes durchforstet, wäre er schnell fündig geworden.

Avanessians Aufsatz findet sich in der ersten von acht den vorliegenden Band gliedernden Sektionen. Sie behandelt musikalische Bezugnahmen in Bachmanns Œuvre. Weitere gelten etwa der Büchnerpreisrede, den Frankfurter Vorlesungen, Bachmann und Heidegger oder den "Poetical and Political Contexts" ihrer Werke. In ihnen widmen sich namhafte Bachmann-ForscherInnen etwa "Bachmanns fortgesetzte[r] Heideggerlektüre in 'Simultan'" (Ingeborg Dusar), der "Intertextualität in Ingeborg Bachmanns 'Malina' und Wystan Hugh Audens 'Zeitalter der Angst'" (Christine Kanz) oder der "Identitätsstiftung als lyrische[r] Hauptkonstante in Bachmanns Dichtung" (Peter Beicken).

Arturo Lacarti, der unlängst mit einer Monografie zu Bachmanns Poetik hervorgetreten ist, beleuchtet einmal mehr den literaturtheoretischen Ansatz der österreichischen Autorin, den er zu den "originellsten der Nachkriegsliteratur" rechnet. (siehe literaturkritik.de 6/1999)

In einem der eindrücklichsten Beiträge setzt sich Sabine I. Gölz mit Sigrid Weigels These der Affinität Bachmanns zu Walter Benjamin auseinander und gelangt im Unterschied zu der Bachmann-Biografin (siehe literaturkritik.de 2/2007) zu dem ebenso innovativen wie bedenkenswerten Schluss, dass sich beider Konzepte grundlegend unterscheiden, denn Benjamins Texte zielten auf eine "Rettung der Sprache", diejenigen von Bachmann hingegen "auf Rettung vor einer Sprache, welche ihre Benutzer diszipliniert, entstellt und gegen einander ausspielt".

Nicht weniger anregend als Gölz' Beitrag ist Kari van Dijks Untersuchung der Androgynie in Bachmanns Erzählung "Ein Schritt nach Gomorrha". Das "radikal Neuartige" an Bachmanns Androgynie-Entwurf besteht van Dijk zufolge darin, dass er "theoretisch nicht gänzlich einholbar" sei, die Erzählung theoretischen Ansätzen sogar entgegenarbeitete. Denn Bachmanns "Androgynie-Modell" problematisiere "nicht lediglich eine Theorie", sondern "das Theoretische überhaupt". Wie van Dijk zeigt, "rüttel[t]" Derridas Konzept der différance als "theoretisches Pendant" der Androgynie zwar ebenfalls an der logozentrischen Ordnung, doch reicht es nicht aus, um die "androgyne Dynamik" von Bachmanns Erzählung "theoretisch zu fundieren". Angesichts der erhellenden Weise, mit der van Dijk die Inferiorität von Derridas différance gegenüber dem Androgynie-Konzept Bachmanns aufzeigt, nimmt man eine die philosophische Logik betreffende Unschärfe, der zufolge der "Satz vom Widerspruch" die Möglichkeit "ein[es] gleichzeitige[n] 'Hier' und Dort" negiere, schon mal in Kauf. Dies umso mehr, als es für van Dijks Argumentation nicht eben von zentraler Bedeutung ist, dass der - wie das zweite der vier elementaren Gesetze der Logik genauer zu bezeichnen wäre - "Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch" (wenn a, dann nicht nicht-a) nur die Möglichkeit eines gleichzeitigen 'Hier' und 'Nicht Hier' bestreitet.

Ebenfalls auf philosophisches Terrain begeben sich Barbara Mariachers "Überlegungen zum Begriff 'Zufall' in Ingeborg Bachmanns Büchnerpreisrede". Nun wurden Bachmanns Texte bereits wiederholt auf philosophische Interpretationsgemeinschaften wie etwa dem Wiener Kreis oder die Frankfurter Schule sowie auf Theorien einzelner Philosophen - besonders nahe liegen selbstverständlich Wittgenstein oder Heidegger - bezogen. Mariacher allerdings betritt Neuland, denn sie konfrontiert die Klagenfurter Büchnerpreisträgerin mit der "[t]ranszendente[n] Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit um Schicksale des Einzelnen" aus den "Parerga und Paralipomena" des Frankfurter Meisterpessimisten Arthur Schopenhauer, indem sie beider Konzeptionen des Zufalls vergleicht. Dabei geht es Mariacher ausdrücklich nicht darum, nachzuweisen oder auch nur zu behaupten, dass Bachmanns Begriff des Zufalls auf Schopenhauers Text rekurriere. Ihre Absicht ist vielmehr, durch den Vergleich zu einer "Verständniserweiterung" von Bachmanns Zufalls-Konzept beizutragen. Hierzu parallelisiert sie namentlich Bachmanns Satz "Es muß [...] wenn es um Zufälle geht, etwa weit zurückliegen, intermittieren, konsequent, aber wiederkommen mit neuen Zufällen" mit einer Stelle aus Schopenhauers Text, die (in der Zitierweise von Mariacher) behauptet, "auch das Zufälligste" sei "nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Notwendiges; indem entschiedene in der Kausalkette hoch auffliegende Ursachen schon längst notwendig bestimmt haben, daß es gerade jetzt und daher mit jenem anderen gleichzeitig eintreten mußte".


Titelbild

Caitriona Leahy / Bernadette Cronin (Hg.): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Mit 1 CD und DVD.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006.
266 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3826031083

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