Alptraum im Quadrat

Regula Venskes Roman "Marthes Vision" besticht durch seine skurrile Verwobenheit und ironischen Brechungen

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wahlhamburgerin Regula Venske ist bekannt, sie schreibt Kritiken und Essays, arbeitet als Journalistin und Literaturwissenschaftlerin, ihre Krimis und Jugendbücher wurden mit Preisen ausgezeichnet und sie ist, wie sollte es anders sein, Glücksforscherin. Dabei kommen ihre Romane, nimmt man deren eher seltene Präsenz in den Feuilletons als Maßstab, deutlich zu kurz. Denn: Regula Venske schreibt reife, komplexe, dichte, intensive Literatur, Leserin und Leser gleichermaßen fordernd - eine Sparte, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht allzu oft besetzt wird.

Auch der neue Roman "Marthes Vision" zeigt das Talent, mehrere Erzähl- und Handlungsebenen miteinander zu verweben und schließlich aufzulösen in einem furiosen Finale. Im Zentrum der Geschichte steht Marthe, 63, Kummerkastentante, seit langem verheiratet mit Wölfi, der in ihrem Alltag nur noch die Rolle eines Möbelstücks spielt. Nun begibt es sich, dass der jüngere und durchaus attraktive Nachbar Beat Dorothea ehelichen will. Die beiden haben sich in den heißen Schwefelquellen Islands kennen und lieben gelernt. Marthe und Wölfi beherbergen als gute Nachbarn die Verwandtschaft (Dorotheas Vater und ihre Schwester Helena). Doch Marthe wird von einem ständig wiederkehrenden Traum gequält, dessen Wirklichkeitsbezug sie vehement vertritt. Darin tötet eine Frau einen Mann - die Tötungsart variiert jedoch.

Am Morgen der Hochzeit, es ist der 6. Januar und der Tag nach dem Polterabend, wacht Marthe früh auf, und während sie ihren gewohnten Spaziergang um den See macht, später das Frühstück zubereitet und sich um die Gäste kümmert, lässt sie ihrer Fantasie komplett freies Spiel und ersinnt in immer neuen Perspektiven die Innenwelten der sie umgebenden Figuren. Da ist die Dreierkonstellation aus Beat, Dorothea und Gretchen. Beat kümmerte sich vor seiner Bekanntschaft mit Dorothea um Gretchen, die ihm nun in die Hochzeit pfuschen will.

Bringt also Dorothea Beat um? Haben die beiden Frauen etwas miteinander? Und da ist Gretchens Mutter Diane aus den USA, von schwarzen Pudeln umgeben. Bringt sie Beat um? Und was ist mit dem mysteriösen Bruder von Gretchen, Soldat mit diffusen Kampfeinsätzen? Während Marthe sich ihren Fantasien hingibt, sinniert sie auch über ihr Alter, ihre Arbeit als Kummerkastentante und welche literarische Form welcher Innenwelt, welcher von ihr erdachten Biografie am ehesten gerecht würde.

Da bleibt es natürlich nicht aus, dass Imaginationen über Weiblichkeit aus unterschiedlicher Geschlechterperspektive erdacht werden (wenn auch von Beat), jede und jeder ein Motiv für einen Mord zugewiesen bekommt und sich Marthe in eine Szenerie hineindenkt, die sie immer mehr von der realen Welt um sie herum wegdriften lässt. Doch das Unheil stellt Marthes Welt schließlich aus einer ganz anderen Richtung auf den Kopf und es braucht einige Eruptionen, bis am See wieder Ruhe einkehrt.

Regula Venske ist ein Buch gelungen, auf das man sich einlassen muss, weil die Komplexität und die Choreografie der nebeneinander stehenden Versionen und Visionen herausfordern. Aber man wird belohnt: mit einer brillant geschriebenen, witzigen, unterhaltsamen und überraschenden Geschichte, die immer auch eine Geschichte über das Schreiben ist und über das Glück, das sich dann doch noch einstellt.


Titelbild

Regula Venske: Marthes Vision. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
283 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3821857838

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