Countdown im Jupiter-Orbit

Wie 15 Erdenmenschen an einem Wochenende einen Science-Fiction-Roman schrieben - und was daraus wurde

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mysteriöse Vorfälle in der Umlaufbahn des Jupitermondes Ceres... geheimnisvolle Eruptionen an der Oberfläche des Gasriesen... ein rätselhaftes Objekt aus fernen Weltraumtiefen... eine Raumstation in tödlicher Gefahr... eine Verschwörung von Wissenschaftlern und Militärs... eine Expedition ins Ungewisse... eine Raumschiffbesatzung im Kampf gegen die eigenen Nerven - und nur 44 Stunden Zeit, eine Katastrophe intersolaren Ausmasses zu verhindern!"

So oder ähnlich hätte man in früheren Tagen das Romandebüt von Wolf N. Büttel mit dem vielversprechenden Titel "Sie hatten 44 Sunden" durchaus anpreisen können - ungeachtet kleinerer oder notfalls auch grösserer Differenzen zwischen Romanhandlung und Klappentext. Aber - wer ist überhaupt Wolf N. Büttel? Ein neuer Stern am Himmel der Science-Fiction? Ein Erneuerer des oftmals totgesagten Subgenres der Space Opera, der den überkommenen Strickmustern neues Leben einzuhauchen und einen zeitgemässen Anstrich zu verleihen vermochte? Ein Name, den man sich merken sollte oder gar schon kennen müsste?

Eher weniger, um nicht zu sagen: mitnichten! Der Ansicht eines erfahrenen Lektors zufolge haben wir es hier mit einem mäßig interessanten Roman zu tun, dessen Grundidee zwar ausbaufähig sei, der auch spannend begonnen habe und sich stilistisch weitgehend auf einem erstaunlichen Niveau (für Erstlingswerke) bewege, im weiteren Verlauf aber darunter leide, dass sich die Handlung zu sehr im persönlichen Hin und Her der Raumschiffbesatzung verliere und die detaillierten Charakterschilderungen der durchaus vielschichtigen Protagonisten eher verwirrend denn belebend und mitreißend wirkten, wozu auch der allzu häufige Perspektivwechsel das Seine beitrüge.

Nun gut, könnte man sich nach diesen Informationen fragen, wozu dieser Aufwand - warum sollte man sich mit diesem Buch näher befassen, wenn es alles in allem nicht schlecht, aber keineswegs überragend sei? Die Antwort mag überraschen: weil wir es hier mit einem höchst lehrreichen und lesenswerten Experiment zu tun haben! Experiment? Lehrreich? Und sogar noch - lesenswert?

Der Witz besteht darin, dass es sich hier nicht um das Erstlingswerk eines gewissen Wolf N. Büttel handelt, sondern um eine Gemeinschaftsproduktion von 15 verschiedenen Autorinnen und Autoren, entstanden in einem Schreibseminar der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel. Seit 1986 macht sich diese um die Förderung von Aktivitäten auf dem Gebiet der Schönen Künste in Form von praxisorientierten Fortbildungsseminaren, Fachtagungen, Kolloquien und Symposien verdient. Im Januar 2005 wagte man hier den Versuch, die beliebte Leerformel "Wir können an diesem Wochenende natürlich keinen ganzen Roman schreiben" systematisch zu widerlegen.

Die Grundidee stammte von Andreas Eschbach, dem Autor von vielbeachteten Science-Fiction-Romanen wie "Solarstation", "Das Jesus-Video" oder "Quest" sowie zweier Gastromane zur Perry-Rhodan-Serie, die unter den Lesern der Abenteuer des Erbens des Universums mittlerweile Kultstatus genießen. Schreiben an dieser mehrere Autoren nach strikten Exposé-Vorgaben mit, um Widersprüche in der Haupthandlung zu vermeiden, wobei ihnen im einzelnen genügend Freiraum für stilistische und thematische Eigengewächse bleibt, so sollte hier, im wesentlich beschränkteren Rahmen eines einzigen, auf etwa 300 Seiten Umfang veranschlagten Science-Fiction-Romans, eine ähnlich geartete Konstellation quasi unter Laborbedingungen und erhöhtem Zeitdruck wiederholt werden. Zur Seite standen ihm als weitere Leiter des Seminars Klaus N. Frick, der langjährige Chefredakteur der Perry-Rhodan-Serie, sowie Olaf Kutzmutz, der Programmleiter Literatur der Bundesakademie.

Unter deren Anleitung machten sich Jürgen Baumgarten, Stefanie Bense, Cathrin Block, Wulf Dorn, Momo Evers, Christian Hermann, Andreas Krasselt, Kathrin Lange, Friedrich List, Angelika Öhrlein, Ursula Poznanski, Hans Peter Roentgen, Wolfgang Sternbeck, Petra Vennekohl und Sabine Wedemeyer-Schwiersch von Freitag, dem 21. Januar 2005, bis zum Sonntag, dem 23. Januar 2005, daran, das Werk zu vollbringen. Nachdem im Vorfeld der eigentlichen Veranstaltung bereits Ideenvorschläge aller Autoren gesammelt worden waren, galt es an diesem Wochenende, diese zu einer zusammenhängenden Geschichte zu bündeln und diese Geschichte dann auch zu schreiben. Inklusive der Schlafzeiten standen dem Team 44 Stunden zur Planung und Ausarbeitung zur Verfügung, womit eine bedeutsame Parallele zwischen Seminarteilnehmern und Raumschiffbesatzung angedeutet war, die sich in der endgültigen Titelgebung manifestieren sollte.

Das Ergebnis wurde, wie allen Beteiligten klar war, kein literarisches Meisterwerk, aber ein nicht zuletzt hinsichtlich der Umstände seiner Entstehung überraschend solides und lesbares Stück Hobbyschriftstellerei, das den Vergleich mit professionelleren Produktionen der zeitgenössischen Unterhaltungs-Science-Fiction, trotz aller Mängel und Einwände, nicht zu scheuen braucht. Die 300 Seiten (in der Buchform nur rund 250) wurden unter den 15 Autorinnen und Autoren gerecht aufgeteilt - jeder erhielt den Auftrag, etwa 20 Seiten zu schreiben. Der Roman wurde in 60 Kapitel unterteilt, und jeder Autor musste 4 Kapitel verfassen, die allerdings niemals am Stück aufeinander folgten, sondern jeweils großzügig über den ganzen Roman verteilt waren. Dem Leser kann es ein geradezu detektivisches Vergnügen bereiten, 15 unterschiedliche Schreibweisen ausfindig zu machen (eine Auflösung findet sich am Schluss des Buches, nur zur Überprüfung!). Der Kenner deutschsprachiger Nachkriegs-Science-Fiction wird überdies mit wissendem Lächeln zahlreiche Insidergags registrieren - ein Raumschiff namens CLARK DARLTON, eine Planetenbasis namens Port Voltz und gar ein Frick-Feldhoff'scher Asteroidencluster.

Jan Wielpütz, einem Belletristiklektor der Lübbe-Verlagsgruppe, wurde das fertige Manuskript, nach einigen redaktionellen Eingriffen der Seminarleiter, die der Feinabstimmung des Romanganzen und dem Korrigieren von Flüchtigkeitsfehlern galten, zur Begutachtung vorgelegt. Das bereits zitierte Gutachten verdeutlicht Schwächen und Stärken des Textes sehr genau und macht nachvollziehbar, warum das Werk nicht zur Veröffentichung in den Science-Fiction-Reihen eines grossen Verlages geeignet erschien - es zeigt aber auch, worauf Wielpütz in einer gesonderten Stellungnahme explizit verwies, nämlich: dass die Entscheidung gegen eine professionelle Veröffentlichung denkbar knapp ausgefallen war.

So erschien "Sie hatten 44 Stunden" im Rahmen der Wolfenbütteler Akademie-Texte - etwa 250 Seiten Roman und über 50 Seiten ausführliche Dokumentation über seine Entstehung von den ersten allgemeinen Ideen bis zum konkreten Schreibprozess samt Stellungnahmen der Autoren und der Seminarleiter und samt des Lektoratsgutachtens. Auf diese Weise ist ein Band zustandegekommen, den man als Gebrauchsliteratur ersten Ranges bezeichnen muss - eine Art "Ein-Band-Enzyklopädie" in Sachen "Handwerk des Schreibens", das sich sowohl für Amateure, als auch für Profis als ungemein praxistauglich erweisen kann.

Eine kleine Beckmesserei sei zum Schluss aber doch noch erlaubt: im Roman liest man konsequent falsch etwas von einer Jupitersuite aus Holsts Planetenzyklus. Das kann der Musikfreund unter keinen Umständen so stehen lassen. Gustav Holst komponierte in den Jahren des Ersten Weltkrieges ein mehrteiliges musikalisches Werk, dessen einzelne Sätze sich programmatisch auf die damals bekannten sieben anderen Planeten bezogen, die so genannte Planetensuite Opus 32, deren vierter Satz dem Jupiter, dem Bringer der Fröhlichkeit, gewidmet ist. Die Bezeichnug "Planetenzyklus" könnte man zur Not noch durchgehen lassen, nicht aber die "Jupitersuite". Wenn es den Autoren beim Schreiben unter Zeitdruck nicht aufgefallen sein sollte, so hätten es zumindest die Herausgeber bei ihrer späteren redaktionellen Bearbeitung korrigieren können. Das ist nun wirklich nicht durch den Experimentcharakter des Ganzen zu entschuldigen - gut, aber das wäre dann auch wirklich alles. Zieht man dieses gesamte Für und Wider in Erwägung, muss man anerkennend konstatieren, dass es dem Team offensichtlich gelungen ist, an einem Wochenende einen Roman zu schreiben, der den Namen verdient - und dass zu viele Köche bisweilen den Brei eben doch nicht verderben müssen.

Halt - noch ein allerletzter Nachtrag: Was nun aber mit dem Pseudonym "Wolf N. Büttel" gemeint sein soll, hat sich dem Rezensenten noch nicht erschlossen. Vielleicht wäre das ein Anreiz für weiterführende Deutungen?


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Andreas Eschbach / Klaus N. Frick / Olaf Kutzmutz (Hg.): Wolf N. Büttel: Sie hatten 44 Stunden. Roman und Dokumentation.
Bundesakademie für kulturelle Bildung, Wolfenbüttel 2006.
320 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3929622238

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