Aufdringliche Zumutungen

In den "Briefen an Justice Jackson" offenbart sich eine eigenbrötlerische und abseitige Zeitgenossenschaft

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die im vorliegenden Band versammelten Briefe aus den Jahren 1945 und 1946 waren adressiert an den amerikanischen Hauptankläger während der Nürnberger Prozesse, Robert H. Jackson. Der Richter am US Supreme Court war im April 1945 durch Präsident Truman von seinen Aufgaben freigestellt worden, um in London bei den Verhandlungen der vier Siegermächte einen möglichen internationalen Prozess gegen führende Nazivertreter vorzubereiten. Als dieser dann im November 1945 begann, vertrat Jackson die Vereinigten Staaten als "öffentlicher Hauptankläger". Am 21. November 1945 betonte er in seiner Eröffnungsrede die grundsätzliche Bedeutung dieses Verfahrens: "Die Untaten, die wir zu beurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben."

Seitdem Jacksons Funktion im Rahmen des Gerichtsverfahrens bekannt war, bekam er Briefe von Zeitgenossen, in der Mehrheit Amerikaner und Deutsche. Im Nachlass Jacksons in der Library of Congress in Washington befinden sich mehrere hundert bislang unveröffentlichte Briefe, aus denen der Herausgeber eine "repräsentative Auswahl" zu treffen bemüht war.

Unter den Briefen sind solche, die Aufmunterung und Unterstützung für die Aufgabe des Chefanklägers mitteilen wollen. Die Grundsätze, die Jackson in seiner Eröffnungsrede dargelegt hatte, fanden bei diesen Zeitgenossen zustimmende Resonanz. Besonders wichtig war vielen deutschen Schreibern, dass Jackson die These von der Kollektivschuld der Deutschen behutsam zurückgewiesen hatte. Doch sind derartige Briefe eher die Ausnahme. Es dominieren solche, mit denen die Verfasser dem Adressaten mit gewisser Aufdringlichkeit ihre jeweilige Sicht und Interpretation des Zeitgeschehens zumuten. Das ist bei denjenigen, die - wie beispielsweise Überlebende der Konzentrationslager oder amerikanischen Soldaten - von Kriegsgreueln berichten, mit eigenen Erlebnissen dem Richter gewissermaßen zusätzliches Belastungsmaterial zur Verfügung stellen wollen, ebenso verständlich wie auch zuweilen anrührend. Diese Briefe sind oft zurückhaltend und eher bittend formuliert. Geradezu fordernd treten indes die vielen anderen Briefschreiber auf. Nach Darlegung ihrer oft kruden und nach Art übereifriger Hobbyhistoriker zusammengetragenen ,Tatsachen', fordern sie von Jackson angemessene Konsequenzen. Amerikanische Briefschreiber fordern ,kurzen Prozess' und äußern ihren Missmut über ein aus ihrer Sicht zu lasches Vorgehen gegen die verbrecherischen Nazis. Andere schlagen vor, man solle doch - statt sie in einem langwierigen Prozess abzuurteilen - die Nazis in ein Arbeitslager stecken, eben so, wie sie es ihrerseits gehandhabt hätten. Derart, so eine kuriose Variante dieser Auffassung, könne man sie produktiv für den Wiederaufbau verwenden.

Unter den deutschen Briefschreibern sind viele, die den Prozess insgesamt in Frage stellen. Zuweilen mit kurioser Begründung, wie bei einem Briefschreiber aus Hamburg, der mitteilt, dass "Hitler als jesuitischer Laienbruder und Mussolini als abtrünniger Freimaurer Werkzeuge des römischen Papstes waren". Standard ist allerdings ein anderes in immer neuen Variationen vorgetragenes Argument: man könne nicht alle Schuld den Deutschen aufbürden, weil doch auch die Alliierten Kriegsverbrechen begangen hätten. Auch solle man bei der Beurteilung der Verbrechen in den Konzentrationslagern bedenken, dass diese keine deutsche Erfindung seien, sondern derartige Lager bereits von den Engländern während des "Burenkrieges" eingerichtet wurden? Ein tumber Antisemitismus treibt jene Briefeschreiber, die grundsätzlich nach der Berechtigung der deutschen Schuld fragen: man wolle den Richter daran erinnern, dass hinter all dem Geschehen das Bestreben der Juden nach ,Weltherrschaft' stecke, oder, wie ein Briefschreiber aus München ausführt, der "internationale ,Bolschewismus' kapitalistisch-jüdischer Prägung".

Die Briefe sind, so schreibt der Herausgeber, "schroff, ungerecht, zynisch, bösartig, manchmal komisch und, ganz selten, voller Hoffnung auf eine bessere Welt".

Allerdings hätte man diese Kennzeichnung gern erläutert. Kann man sie wirklich, wie der Herausgeber meint, als "Spiegelbilder ihrer Zeit" verstehen? Um eine solche Aussage zu rechtfertigen, hätte es einer vertiefenden Betrachtung bedurft, die etwa zu begründen hätte, wie repräsentativ diese Briefe für die Stimmungslage der Zeit sind. So wie sie hier zu lesen sind, drängt sich eher der Verdacht auf, als habe vor allem ein bestimmter Typ Briefschreiber sich an Jackson gewandt: skurril-kauzige, abwegig die Weltläufe interpretierende Eigenbrötler, die nicht einfach deshalb repräsentativ genannt werden können, weil sie in einigen Punkten an bekannte und in gewissen Kreisen bis heute ebenso beliebte wie falsche Verschwörungstheorien anknüpfen.


Titelbild

Henry Bernhard (Hg.): Ich habe nur noch den Wunsch, Scharfrichter oder Henker zu werden. Briefe an "Justice Jackson" zum Nürnberger Prozess.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006.
336 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3898124061
ISBN-13: 9783898124065

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