Öde Containergeschichten sind out

Amélie Nothomb treibt es in ihrer "Reality-Show" auf die Spitze

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war schon wieder so eine provozierende Idee von Amélie Nothomb, die Teilnehmer ihrer "Reality-Show" nicht freiwillig, sondern als Gefangene auftreten zu lassen. "Öde Containergeschichten sind out" also werden die Menschen bei Razzien am helllichten Tag abgefangen, wahllos und zufällig. Kinder und Greise eingerechnet, obwohl man sie als arbeitsunfähig zuallererst eliminiert. Eintätowierte Nummern statt Namen, geistig beschränkte, im wahren Leben gescheiterte Kapos dürfen nach ihrem Gutdünken über Leben und Tod der Opfer entscheiden. "Man brachte sie in ein Lager, das denen der Nazis vor noch nicht allzu langer Zeit relativ ähnlich war - bis auf eine offenkundige Ausnahme: Überall waren Überwachungskameras installiert."

Umso erfreulicher: Das Prinzip der Totalüberwachung soll doch Verbrechen vorbeugen. Oder geht es bei Amélie Nothombs "Konzentration" vielmehr um das Gegenteil? Alle Übergriffe und Streitigkeiten werden sorgfältig aufgezeichnet und unter dem Mäntelchen spannender Unterhaltung dem nach Ablenkung dürstenden Zuschauer verkauft.

Die Einschaltquoten erreichen das absolute Maximum, als Kapo Zdena - eine Mischung aus grobschlächtiger Sadistin und gekränktem Dummchen - sich in die anmutige CKZ 114, "das hinreißendste Gesicht, das man sich vorstellen kann", verliebt. Auch andere Häftlinge, wie der Lehrer EPJ 327, empfinden für CKZ 114 anfangs Zuneigung, die als einzige in dieser grotesk-tragischen Situation ihre Würde und die der anderen Häftlinge zu wahren versucht. Vergeblich, denn obwohl CKZ 114, alias Pannonica, durch ihre Namensenthüllung ihrer Einheit heimliche Vorteile durch Zdenas Schokoladenrationen zusichert, gerät auch sie wegen ihrer Abweisung gegenüber der potenziellen Retterin unter den Häftlingen zunehmend in die Kritik.

Als die Zuschauerquoten leicht zu sinken beginnen, greifen die Organisatoren zu noch perfideren Mitteln; Von nun an sollen allein die Zuschauer per Videotextabstimmungen die Opfer zum Tode verurteilen. Natürlich sind alle empört. "Eltern erklärten ihren Kindern anhand der Sendung das Böse". Die mahnenden Schlagzeilen der Printmedien ziehen mit ihren widersprüchlichen Kommentaren noch mehr interessierte Zuschauer an. Die Quote steigt. Niemand unternimmt etwas dagegen, aber jeder ist dabei, um sich die Konzentration des Bösen anzuschauen, mitreden zu können und insgeheim doch gegen Pannonica abzustimmen.

Durch die Konformität unter den Zuschauern, Institutionen und Politikern gerät die Glaubwürdigkeit dieses Showmechanismus' jedoch ins Wanken - wo bleiben die Gegenspieler, die Opposition? Zwar sind sie durch Pannonica und EPJ 327 vertreten, aber nur schwach, da sie selbst machtlos, statisch und in ihren Dialogen holzschnittartig wirken, ohne dass es der Handlung zugute kommt. Trotz aller Versuche Nothombs, eine Atmosphäre des Grauens zu erzeugen, stellt diese sich kaum ein. Wie denn auch, bei den egoistischen und selbstgefälligen Menschen, die keiner Sympathiebekundung wert sind. Selbst die Gefangenen wirken bei ihren abgehobenen Tischgesprächen maniriert, auch wenn es klar ist, dass sie damit nur ihre Entrüstung gegenüber den Kapos und dem "Showregime" manifestieren.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Zdena das Lager sabotiert und Pannonica sowie alle Gefangenen - nicht aus Nächstenliebe sondern aus Berechnung - rettet.

Trotz des offensichtlichen Happyends mit Pannonica und Pietro Livi, dem Ex-Häftling EPJ 327 bleibt der Blick des Lesers betrübt. Was ist das für eine Welt?

Dennoch scheint, neben der originellen, wenn auch etwas unglaubwürdig umgesetzten Story, gerade der bittere Nachgeschmack, den das Buch hinterlässt, seine größte Stärke zu sein. Offene Fragen, gleich ob nach fiktiven Ungereimtheiten oder Übereinstimmungen mit unserer heutigen Realität, ermuntern dazu, erneut über das aufwühlende Buch nachzudenken.


Titelbild

Amelie Nothomb: Reality-Show. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
170 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3257861575

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