Spurensuche

Martin Baisch rekonstruiert funktionsgeschichtlich Textvarianz mittelalterlicher Literatur am Beispiel der Münchner Handschriften Cgm 19 und 51

Von Sebastian MöckelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Möckel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Große wissenschaftliche Debatten gehen bisweilen mit Getöse einher. Im Feuerwerk der Auseinandersetzungen werden Lager gebildet, wird um Geltungsansprüche gerungen - und auch ein bisschen um Geld. Die Lamentos der Avantgarden über die Unbeweglichkeit der Traditionalisten gehören ebenso dazu, wie die Sorge Letzterer um die Identität des Faches. Hat sich dann der Rauch verzogen, wird der Blick frei auf Möglichkeiten neuer Fragestellungen. Eine in diesem Sinne angenehm unaufgeregte kulturwissenschaftliche Neubestimmung von Textkritik legt Martin Baisch mit seinen "Tristan"-Studien vor, die allerdings ebenso das "Titurel"-Fragment Wolframs von Eschenbach einschließen. Seine Erhellung von "Status und Funktion der Textvarianz" mittelalterlicher Handschriften sind als Reflex auf die Auseinandersetzung um die sogenannte New Philology zu verstehen, die sich zum Kampf um eine moderne Mittelalterphilologie ausweitete.

Auch da herrschte mitunter ein scharfer Ton. Bernard Cerquiglini unternahm 1989 mit seiner Provokation ("Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie") nichts Geringeres, als die Versenkung rekonstruierender Textkritik in Gestalt ihres ,Flaggschiffs' Karl Lachmann. War die altgermanistische Editionspraxis längst zu differenzierteren Modellen gekommen, trug die Fokussierung auf einen Gründungsvater der Textkritik der neuen Philologie den Vorwurf ein, sie sei Nekro-Philologie. Gleichwohl wurden die Grundfesten erschüttert, gerieten die Begrifflichkeiten ins Wanken. Wenn Überlieferung nicht mehr als fehlerhafter Prozess einer Originalentstellung verstanden werden kann, der durch die heilende Philologenhand wieder rückgängig gemacht werden muss, sondern jeder Überlieferungsträger als Ausdruck einer konkreten historischen Textausprägung in sein Recht gesetzt wird, dann bedarf es der Revision angestammter Begriffe wie ,Text' oder ,Autor'.

Martin Baisch knüpft an diese Diskussion an. Er begreift die Verstrickungen der zeitgenössischen Editionsphilologie in neue Theoriedebatten denn auch eher als eine Herausforderung. Um eine unkritische Übernahme ist es ihm allerdings nicht zu tun. Seine Überlegungen sind stets abwägend, Einwände werden präzise formuliert und gewichtet. Er verweigert sich simplifizierender Übernahmen schicker und inzwischen weit gebräuchlicher Extrakte postmoderner Standards: so reicht es nicht, vom Tod des Autors zu künden und dies für das Mittelalter ebenfalls zu postulieren (als provokante Zuspitzung durchaus vergnüglich, man stelle sich einen ,autorlosen' universitären Seminar- und Prüfungsbetrieb vor), sondern man muss die Kategorie des Autors historisieren. Das führt durchaus zu einem Mehr an Problemen, aber eben auch zu einem Mehr an Erkenntnissen.

Baisch ist in seiner methodischen Arbeit ebenfalls konsequent historisierend. Er zeigt zeitgenössische Konzepte produktionsästhetischer Verantwortung innerhalb der Textüberlieferung. Dabei werden Differenzen wie Konversionen solcher Instanzen wie Schreiber, Redaktor, Autor, Kompilator, Kommentator unter anderen herausgestellt. Er macht deutlich, dass die Überlieferung zwar keine Dauerproduktion von Sinntransformation darstellt, es dennoch eine große Bandbreite von Veränderungsphänomenen gibt, die genauer klassifiziert und für die Interpretation nutzbar gemacht werden müssen.

Im Grunde geht es Baisch um die Erhellung der Besonderheiten und Eigenheiten eines bestimmten Überlieferungsträgers, der Handschrift. Dies berührt nun den Status des überlieferten Textes, der zwar singulär wahrgenommen werden kann, dabei aber immer in die Gesamtüberlieferung eingebettet bleibt. Damit ist der Kern der weit ausdifferenzierten methodischen Prämissen der Studie benannt. Die Anleihen bei kulturwissenschaftlichen und postmodernen Theorieangeboten zeigen ihn auf der Höhe der Zeit. Dies erweist Lust und Fähigkeit des Autors zu theoretisch anspruchsvoller Reflexion, könnte jedoch punktuell in seiner Funktion an der Untersuchung des Gegenstandes, den Handschriften, deutlicher gemacht werden.

Ausgehend vom New Historicism versteht Martin Baisch die je spezifische Textgestalt als ,anekdotische Varianz'. Die Varianz in den Texten einer Handschrift gewährt "Aufschluss über historisch spezifische, sinnhaft aufgeladene und textkritisch schwer zu rekonstruierende Rezeptionsakte [...], die uns eine mehr oder minder ,dichte Beschreibung' eines situational gebundenen Moments der Texte vermittelt." Damit gilt es, den Text in seinen Überlieferungszusammenhang wieder einzupassen, ihn in seinem Gebrauchs- und Entstehungskontext ernst zu nehmen. Text ist so verstanden eine Wiedergebrauchsrede, die in spezifischen Situationen (der Aufführung, des Lesens, des Abschreibens und so weiter) aktualisiert wird. So weit, so gut - doch nun beginnen die Probleme. Wie lässt sich denn der Kontext eines mittelalterlichen Textzeugnisses bestimmen, wenn man - wie es fast immer der Fall ist - nur über eine lausige Datenlage verfügt? Über die Beispiele, die Codices Cgm 19 und 51, weiß man immerhin, dass sie aus einem bairischen oder ostalemannischen Skriptorium stammen, man kann 9 Schreiber differenzieren. Über die Art des Skriptoriums, Auftraggeber, Arbeitsverfahren und -teilung bei der Abschrift der Texte hingegen weiß man so gut wie nichts.

Der Verfasser stellt sich diesen Schwierigkeiten und schlägt nach trefflicher Suspendierung unpräziser Kategorien wie Gebrauchsinteresse eine hermeneutische Spurensuche vor: In der vergleichenden Betrachtung der in den Handschriften überlieferten Texte mit den textkritisch gewonnenen, die Gesamtüberlieferung dokumentierenden Editionen zeigt er die Bearbeitungstendenzen des Schreibers beziehungsweise Redaktors. Dies allerdings weniger in Substitution für einen kritisierten und untauglichen modernen Autorbegriff, sondern vielmehr als Diskurs von Indizien und Spuren, "die auf Spannungen und Konflikte im kulturellen Imaginären" der Gesellschaft verweisen, Bearbeitungsspuren, die sich mitunter erst unter dem philologischen Mikroskop nachweisen lassen. Dies erfordert eine aufmerksame, Um- und Abwegen folgende Lektüre, bei der Baisch nie den Faden verliert. Er verweigert sich dem Kurzschluss, die Bearbeitungen gänzlich in außerliterarischen Interessen und Kommunikationsbedingungen aufgehen zu lassen. Gleichermaßen beachtet er die ästhetische Komplexität, die man nicht verrechnen könne.

Gewiss lassen sich in diesem Spiel mit vielen Unbekannten keine unumstößlichen Schlussfolgerungen ziehen, manche rekonstruierte Spur kann anders gelesen werden. Auch ist ein Gestaltungswillen des Redaktors aus dem Text selbst nicht ablesbar, zuweilen nicht einmal hypothetisch im Vergleich mit anderen Textfassungen. Der Grenzen seines Zugangs ist sich Martin Baisch überaus bewusst. Dennoch ist ihm zuzustimmen, dass dies allein eine genaue Betrachtung der Textvarianz nicht überflüssig macht. Im Gegenteil, die Lektüre zeigt eine Fülle von Bearbeitungen, die der hermeneutische Zugang unzweifelhaft als konzeptionelle Aktualisierung des Textes enthüllt.

Für eine solche Rekonstruktionshermeneutik ist der Gegenstand gut gewählt. Handelt es sich doch beim Cgm 51 um eine Kurzfassung des "Tristan"-Romans Gottfrieds von Straßburg nebst der Fortsetzung von Ulrich von Türheim. Der Cgm 19 hingegen darf insofern als Besonderheit gelten, als hier Texte Wolframs von Eschenbach nach dem Autorenprinzip, allerdings ebenfalls bearbeitet, zusammengestellt wurden. Baisch beschränkt sich auf das "Titurel"-Fragment, das in dieser Handschrift seine umfangreichste Überlieferung erhalten hat. Hier sind interpretatorische Ansätze und deren Rückbindung an die Überlieferung besonders deutlich zu greifen und einsichtig zu machen. Das wird auch nicht bei allen Überlieferungsträgern zu solch weit reichenden Erkenntnissen führen.

Der "Tristan"-Teil nimmt den größten Raum der Monografie ein. In einem Durchgang durch den Text traktiert Baisch sämtliche Veränderungen - in übergroßer Fülle sind dies Textkürzungen. Er hält das vergleichende Verfahren stringent durch. Vor der Folie des Gesamttextes macht er die Sinnpotentiale deutlich, die vom Redaktor getilgt wurden. Dabei kann er eine eigene konzeptionelle Adaptation des Textes in der Kurzfassung ausmachen. So wird der außergewöhnliche Status der Liebe zwischen Tristan und Isolde einerseits abgemildert, wird durch die Tilgung von Erscheinungsformen des Höfischen das soziale Konfliktpotential heruntergespielt. Andererseits werden alle Merkmale von Krise innerhalb der Liebe - die Schattenseite der Passion - konsequent gestrichen. Der Bearbeiter verteidigt insofern die Liebenden, durch die Verkürzung von Nebenfiguren konzentriert er die Erzählung zudem auf die Liebesbeziehung der Protagonisten. So könnte die von Baisch ausgemachte "Familiarisierung" der Anredeformen dann auch auf den gesamten Text ausgedehnt werden. Denn die Reduktion der Gesellschaft verstärkt den Fokus auf die Intimbeziehung der Liebenden, der Redaktor schaltet sozusagen auf Innenbeleuchtung und zieht die Vorhänge vor dem Blick der Übrigen vor. Insgesamt "verweigert er sich der Komplexität von Gottfrieds Text", wenn insbesondere die elaborierten Schilderungen und rhetorischen Glanzstücke geglättet werden und vornehmlich die Exkursebene des Erzählens vom kräftigen Schnitt des Redaktors getroffen ist. Deutlich ist der Gewinn von Baischs Arbeit: Die Kürzungen lassen sich eben nicht allein als Raffung der Handlung verstehen oder als Trivialisierung aus dem Unverständnis des Schreibers. Besonders spürbar ist dies in der absichtsvollen Bearbeitung der Isolde-Figur, die Einiges von ihrem Profil verliert.

Die einzige Schwäche des Vorgehens hat der Verfasser selbst benannt: man kann sich nicht nur mit den fehlenden Textstücken beschäftigen, sondern muss gleichermaßen das Gebliebene lesen. Anders: die "poetische Autonomie der Textaktualisierung" gerät im vergleichenden Lesen aus den Blick. Daher ist ihm unbedingt zuzustimmen, dass Kurzfassungen wie die der Münchner Tristan-Handschrift als eigenständige Werke wahrgenommen - und mithin ediert werden sollten.

Der "Titurel"-Teil ist etwas kurz geraten, was angesichts des hoch komplexen und schwierigen Textes bedauerlich ist. Aber auch das mag dem Verfahren der Arbeit geschuldet sein. Baisch arbeitet Fassung gegen Fassung, allein bei der dünnen Titurel-Überlieferung ist nicht viel zu vergleichen. So geht es ihm vor allem darum, die Eigenartigkeit des Textes in seiner Überlieferung ernst zu nehmen. Vor allem an Strophenfolge, aber auch evidenten Bearbeitungen insbesondere der Frauenfigur Sigune kann er zeigen, dass die Fassung des Cgm 19 keine deviante Überlieferung ist. Sie verweist zum einen auf "spezifische, historisch ausgebildete Weiblichkeitsmuster" und ist andererseits in ihren narrativen Brüchen mit einer "Poetik der Fragmentarisierung" zu lesen. Und auch hier noch einmal: Die Münchner Handschriften sind Produkte spezifischer historischer Textaktualisierungen und müssen als solche verstanden werden. Die Varianz ist daher eben nichts Unverständiges oder Fehlerhaftes, nichts was vom Philologen konjiziert, umgestellt, metrisch wiederhergestellt oder anderweitig bearbeitet werden müsste.

Martin Baisch hat ein wichtiges und notwendiges Buch seiner philologischen Spurensuche vorgelegt. Mit Akribie und Sensibilität ist ihm gelungen, die untersuchten Handschriften aus den Fängen der textkritischen Fehleranalyse herauszuholen und ihren eigenständigen Sinn deutlich zu machen. Die hervorragende Arbeit öffnet den Blick auf vertiefende Arbeit mit den mittelalterlichen Überlieferungszeugnissen: aus den Erkenntnisgewinnen erwachsenen neue Fragestellungen, wird ein Feld weiterer Beschäftigung sichtbar. Martin Baisch zeigt in seiner überaus gut lesbaren Untersuchung, wie man mit neuen und konsequent philologischen Prämissen Mediävistik betreiben - und wie lohnend die Hinwendung zu den Überlieferungszeugnissen sein kann.


Titelbild

Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-Lektüren.
De Gruyter, Berlin 2006.
399 Seiten, 108,00 EUR.
ISBN-10: 3110185687

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch