Meisterhaft

Erzählungen von Gerold Späth

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Mächler, ein Witwer aus dem benachbarten Ernetschwil, der noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika auswanderte, dort zu Vermögen kam und sich im Alter einen Ruhesitz am oberen Zürichsee erworben hat, braucht einen Zuhörer. Und der Zuhörer, den er sich ausgesucht hat, ist zugleich Pfarrer, ein älterer Herr, der sich von seinem Amte bereits zurückgezogen hat und den Lebensabend damit verbringt, bei einem guten Tropfen die römischen und griechischen Klassiker zu lesen, frivole nicht ausgeschlossen. Besagter Pfarrer gerät nun besagtem Mächler in die Finger, und das ist ein schlimmer Finger, den er da kennenlernt, einer, der in Amerika gemordet hat, "lautlos" und aus Lust, der jetzt krank darniederliegt und dem es Freude macht, seinen Zuhörer mit seinen Geschichten zu quälen. Dies ist der Beginn eines fast lautlosen Kampfes, denn bald erwacht im Pfarrer die Leidenschaft zu "längeren Gedankenspielen" mörderischer Art.

Wer Gerold Späths Erzählung "Familienpapiere" liest, wird sich vielleicht an die bedeutenden Realisten des 19. Jahrhunderts erinnert fühlen, an Storm und Raabe, Mörike und C. F. Meyer, an Gottfried Keller und Adalbert Stifter. Und er wird es bedauern, dass unseren Erzählern das Talent abhanden gekommen ist, solch "längere Gedankenspiele" (wie auch Arno Schmidt sie nannte) wie auf dem Reißbrett zu entwerfen, sie mit einer Sprache und Psychologie auszustatten, dass man vor Spannung schier zu platzen glaubt.

Denn auch sprachlich ist diese Erzählsammlung selbstredend meisterhaft, elegant, lehrreich und im besten Sinne unterhaltend. Späths Virtuosität erinnert wiederum an die Erzählökonomie der großen Realisten: Jedes Wort sitzt, die sparsam platzierten Helvetismen ebenso wie auch die Wörter, die bisweilen fehlen - noch die elliptischen Gesten dieser Prosa setzen herrliche Akzente.

Titelbild

Gerold Späth: Ein Nobelpreis wird angekündigt. Zeichnungen von Heidelore Goldammer.
Pfaffenweiler Presse, Pfaffenweil 1999.
72 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3927702153

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