Die Schatten einer Kindheit

David B. gelingt mit "Die heilige Krankheit" sein Opus Magnum

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Comic-Zeichner David B. ist deutschen Lesern bislang nur von "Der Tengu", "Das bleiche Pferd" und "Babel" bekannt. Die autobiographische Erzählung "L'Ascension du Haut Mal" (etwa: "Das Emporkommen des großen Übels"), wie der Originaltitel lautet, ist sein Chef d'œuvre, das in sechs Folgen erschienen ist, von denen der bei Edition Moderne erschienene Sammelband drei vereinigt. "Die heilige Krankheit" ist eine unpassende Übersetzung von "haut mal", was die im 18.Jahrhundert geprägte Bezeichnung für schwerste Formen epileptischer Anfälle ist. Die Bedeutung eines "Gotterfülltseins", die der Epilepsie in der Antike beigemessen wurde - Hippokrates überschrieb sein Kapitel über Epilepsien mit "Die Heilige Krankheit" - ist bei David B. allerdings nicht zu finden. "L'Ascension du Haut Mal" ist keine medizinische Fallstudie, sondern die Geschichte einer Adoleszenz im Schatten der Krankheit. Die Epilepsie seines älteren Bruders bestimmt das Heranwachsen der drei Kinder der Familie Beauchard; sie führt sie nach einer kurzen Zeit einer kindlichen Gemeinsamkeit in die Vereinsamung.

Dennoch wird die Erzählung von dem heiter-sarkastischen Ton getragen, mit dem sich der kleine Pierre-François (alias David B.) gegen seine Umwelt abgrenzt. Es bleibt ihm nichts anderes übrig angesichts der Gurus, selbstherrlichen Chirurgen und der Hilflosigkeit der Eltern, die ihn umgeben. Um eine äußerst risikoreiche Operation zu vermeiden, wenden sie sich der Zen-Makrobiotik zu, nach der alles Leben auf den Prinzipien von Yin und Yang beruht und jede Krankheit eine Äußerung des fehlenden Gleichgewichts ist. Es kann mit der Hilfe von Diäten jedem Menschen wiedergegeben werden. Das Leben in den makrobiologischen Gemeinschaften wird ebenso wie später die Séancen mit einem überbordenden graphischen Reichtum geschildert, der der Erlebnis- und Imaginationswelt von Pierre-François entspricht. Es ist bestaunenswert, dass dabei die expressiven Zeichnungen niemals zum Selbstzweck werden, sondern immer im Dienste der Geschichte stehen. Die Krankheiten der Gemeinschaftsmitglieder erscheinen als groteske Gestalten, die aus ihren Körpern herauswachsen oder auf ihren Schultern hocken und den Ernährungsratschlägen der Meister lauschen. Da sich das makrobiologische Leben vor allem ums Essen dreht und die Kinder unter den Diäten zu leiden haben, sieht man sie über ein Ungeheuer aus Zwieback, Keksen, Obst und Gemüse herfallen.

Es war das Fehlen einer erzählerischen Kontinuität, was die ästhetische Freude an David B.s Traumbuch "Das bleiche Pferd" spürbar beeinträchtigte, auch wenn es in der Natur des Gegenstands lag. In "L'Ascension du Haut Mal" entwirft er ein großes Familienporträt, in dem vom kontinuierlichen Kampf gegen die Krankheit und den Tod berichtet wird. Pierre-François macht immer wieder die Erfahrung, dass die Ohnmacht, der man sich ausgesetzt sieht, von allen Seiten noch forciert wird, von denen Hilfe erwartet wurde: die Makrobiotik, Geisterbeschwörer oder Intellektuelle. Er ist fasziniert von großen Schlachtentableaus, die seine ersten Zeichenarbeiten sind. Sein Bruder Jean-Christophe kompensiert seine epileptischen Anfälle mit Phantasmen von Hitler und Stalin.

Die Epilepsie bricht schließlich visualisiert als Drachen in die Welt der Familie und den Körper des Bruders Jean-Christophe ein und entfremdet ihn von den anderen, während sich die Eltern und die kleine Schwester in einer Geisterwelt verlieren, nachdem der Großvater gestorben ist und sein Tod von der Mutter nicht bewältigt wird. Pierre-François ist der einzige, der durch seinen Spott und seine Bilder in der Lage ist, sich über das beklemmende Leben zu erheben. Die Erscheinung des vogelartigen Geistes des Großvaters wirkt auf ihn nicht bedrohlich, sondern wird Teil seiner natürlichen Umgebung.

"L'Ascension du Haut Mal" hat in Frankreich eine immense Auflagenzahl erreicht, die im Verlag "L'Association" nur noch von Marjane Satrapis "Persepolis" übertroffen wurde. Bei "Edition Moderne" wird im Herbst der zweite Band in deutscher Übersetzung erscheinen, die abgesehen von dem missglückten Titel sehr gelungen ist. David B. hat in einem Interview angekündigt, noch zwei weitere Folgen geplant zu haben. Selbst in der gegenwärtigen Fülle der französischen Comicliteratur ist dieser Roman ein besonderes Ereignis. Bereits mit "Babel" und "Das bleiche Pferd" hatte er sich als einzigartiger Bildkomponist erwiesen, hier vermag er aber sein Gestaltungsgenie in eine große Erzählung zu integrieren. Ihm gelang, was er scherzhafterweise in einem Kommentar zu Lewis Trondheims "Approximativement" vom zeitgenössischen Comic einforderte: eine gewissenhafte Dokumentation. Allerdings dokumentiert er mit den Mitteln der Poesie.


Titelbild

David B.: Die heilige Krankheit.
Edition Moderne, wuppertal 2006.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3037310073
ISBN-13: 9783037310076

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