Unordnung und spätes Leid

Walter Hincks Jahrhundertchronik

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Querschnitt von Erzählungen des 20. Jahrhunderts in einem Reclam-Bändchen von knapp 650 Seiten ist eine undankbare Sache. Selbst für ein Jahrzehnt würden 650 Seiten nicht langen, und so kann diese Auslese (wie jede Auswahl unter vergleichbaren Bedingungen) nicht mehr und nicht weniger sein als ein Amuse-Gueule. Ein subjektiver Kanon, den man als Chance begreifen sollte, sich verführen zu lassen vom Geschmack eines anderen.

Viele Erzählungen, die Walter Hinck ausgewählt hat, sind in der Tat kanonisch und werden dem Leser nicht zum ersten Mal begegnen. Unwillkürlich stellt man sich die Frage, ob sie einer erneuten Prüfung noch standhalten, Schullektüren wie zum Beispiel Heinrich Bölls "Wanderer, kommst du nach Spa...", Texte aus den ersten Nachkriegsjahren wie Ilse Aichingers "Spiegelgeschichte", Arbeiten aus der untergegangenen DDR.

Jede Auswahl stiftet einen neuen Kanon: Franz Kafkas "Hungerkünstler" steht in einem Kontext Prager Erzählungen von Franz Werfel und Max Brod, der das Wiederlesen spannend macht. Thomas Manns "Unordnung und frühes Leid" und Brechts "Die unwürdige Greisin" bilden einen denkbar großen Kontrast im Kapitel "Bürgertum im Umbruch", während Marieluise Fleißers "Stunde der Magd" und Falladas "Der Mensch auf der Flucht" eine fast homogene Einheit stiften (im Kapitel "Randexistenzen"). Hofmannsthals "Lucidor" ist für den Rezensenten eine echte Entdeckung, für die er Walter Hinck dankbar ist: Ein Text, dessen Modernität darin besteht, dass er quasi das Entwurfsstadium einer "ungeschriebenen Komödie" darstellt, deren Aufführung die Wirklichkeit gar nicht mehr bedarf. Auffällig ist Hincks Zurückhaltung im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts: nur acht Texte repräsentieren die letzten drei Dezennien, nur ein jüngerer Autor (Ingo Schulze) ist vertreten. Der Überhang von Texten der zwanziger und dreissiger, fünfziger und sechziger Jahre hängt sicherlich auch mit der literarischen Individuation des Herausgebers (geboren 1922) zusammen.

Gibt es nichts zu kritisieren? Mich stören vor allem die Inkonsistenzen und Unstimmigkeiten, die im Anhang auftreten: Sollte man nicht, wenn man die "Krisen des Erzählens" im 20. Jahrhundert thematisiert, auf Hofmannsthals Lord-Chandos-Brief (1902) zu sprechen kommen? Und müsste man nicht, wenn man mit Texten durch ein Jahrhundert führen möchte, jeweils angeben, wann die Texte entstanden und wann sie erstmals publiziert worden sind? Hinck gibt mal das eine, mal das andere Datum an, mal weder das eine noch das andere. Es dürfte doch möglich sein, auch für Heinrich Manns "Sterny" (im Anhang plötzlich "Story") die Entstehungszeit oder den Erstdruck zu ermitteln, genauso für Falladas "Ein Mensch auf der Flucht" oder Wolfgang Borcherts "Der viele viele Schnee". Und sollte man nicht auf die Darstellung der Gattungsdogmatik (Erzählung versus Novelle) verzichten, wenn sie für die Texte eh´ keine Rolle spielt? Derlei Inkonsequenz erst macht die Anthologie angreifbar.

Titelbild

Walter Hinck: Jahrhundertchronik. Deutsche Erzählungen des 20. Jahrhunderts.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
636 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3150500303

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