Negation und Fülle

Hermann Peter Piwitts variationsreicher Roman über Nichtigkeit und Lebenskraft

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist unter den Gattungen der Roman die redselige, so trägt dieser schmale Band von nur 126 Seiten seine Bezeichnung kaum zu Recht. Und selbst was da steht, kommt zuerst scheinbar maulfaul daher, zudem aus denkbar größter Entfernung, wie der Eingangssatz verrät, der genau genommen nichtmal ein vollständiger Satz ist: "Der Rest vom Mond herunter."

Nur sehr widerwillig setzt dieses Erzählen ein, das zunächst vom Irdischen völlig isoliert wirkt: "Nur die Stimmen der Bodenkontrolle sind verstummt. Die Funkverbindungen erloschen. So weit, so gut. Feiner grauer Staub, Steine, Krater. Ein Schlachtfeld. Auch das ist wie immer." Dass aber der Ort der Einsamkeit ebenso als Schlachtfeld erscheint wie die Erde, die es doch zu verlassen galt, zeigt schon an, wie wenig die Distanz aufrecht zu erhalten ist. Die Schlachtfelder der Erde geraten sehr schnell in den Blick.

Der erste der beiden Romanteile trägt den Titel "Kunersdorf". In seinem Zentrum stehen zwei scheiternde Männer. Der eine ist der größere Bruder des Erzählers, in der Kindheit der Überlegene, der in der frühen Bundesrepublik als Architekt aufsteigt, doch später im Ruin endet. Je verzweifelter seine finanzielle Lage wird, desto absurder, desto selbstzerstörerischer geraten ihm die Versuche, sich zu retten. Bald sind die juristischen Kriegszüge des Bankrotteurs unverkennbar vom Irrsinn gezeichnet - was zwar der Leser leicht erkennt, nicht aber die Institutionen, mit denen der Bruder es zu tun hat und die nun die Regeln der Gesellschaftsordnung, die er fanatisch bejaht hat, an ihm exekutieren. Der Bruder endet in der psychiatrischen Anstalt, getäuscht mit dem Versprechen, bei Wohlverhalten noch einmal freizukommen.

Die Familie war vom Nazi-Vater bestimmt, dem der Bruder nachschlug: Als der Kleinere in der Kindheit ihn einmal verletzten wollte, beleidigt er Hitler, nicht aus politischer Klarsicht, sondern aus Bosheit - und wurde auch gleich mit dem Messer bedroht. Viel später noch, im Verfall, fühlt sich der Bruder von sowjetischen Agenten bedroht, wo doch alles nach der Logik des Kapitalismus abläuft. Gleichzeitig geistert eine gutgelernte Formel aus den oberflächlichsten bundesrepublikanischen Warnungen vor den Nazis durch seine Briefe: "Schon einmal in diesem Jahrhundert...!". Die Kombination von Verfolgung und Verfolgungswahn ist heillos. Das gilt überhaupt für die westliche Nachkriegszeit: "Das war von Anfang an erledigt. Nie haben wir etwas anderes erwartet, als die Städte brannten. Nie etwas anderes, als daß sie wieder brennen würden." Die Zeit danach, davor, dazwischen, wird mit Lärm gefüllt: "Die Feste. Feste übers ganze Jahr. Events. Love-Parades. Olympiaden. Reichsparteitage. Und schrille Leute überall."

Ist dem Erzähler die Geschichte ein Grauen, so bedeutet sie seinem Bruder Hoffnung. Sein Held ist Friedrich, "der Große", von Preußen, der Verlierer der Schlacht von Kunersdorf, der dann gegen jede Erwartung doch noch den Krieg gewann. Die Preußen-Filme der dreißiger Jahre haben die Mischung aus Heroik, Selbstmitleid des Helden, aus Opfer und Triumph vorformuliert, die auch noch einem Marktverlierer von heute Identität stiften könnte. Der Erzähler aber interessiert sich vor allem für die vom Geschichtsmythos kaum erfassten Nachkriegsjahre des Königs, jene gut zwei Jahrzehnte der einsamen Verwaltung, des Zynismus, des Verdreckens und Verkommens, die den Sieg wertlos erscheinen lassen. Es scheint einerlei: Den Bruder, der dem Wahnsinn verfällt, schiebt die Gesellschaft ins soziale Nichts ab. Der König, der vergleichbare Symptome zeigt, ist vor einer solchen Degradierung geschützt und verfällt in seiner herausgehobenen sozialen Stellung nicht minder als der ähnlich eingesperrte Irre. Die Momente der Selbsterkenntnis, die ihn vom vollends verblendeten Bruder unterscheiden, besiegeln nur das Unglück, dem der Nachfolger durch braves Verhalten entkommen zu können meint.

Gemeinsam ist beiden, ist fast allen Akteuren die Logik des Vernichtens. Wie für Friedrich der Krieg nicht nur die ökonomisch überflüssigen Männer beseitigte, sondern auch durch den danach notwendigen Wiederaufbau die Wirtschaft erst in Schwung brachte, so formuliert eine wichtige Randfigur des Romans, Stutz, einen Grundsatz der Marktwirtschaft: "Hunger, Krieg, wie sie unabdingbar. Daß endlich wieder Nachfrageschübe entstünden, Innovationsschübe geradezu. Ein Ruck durchs Land...".

Stutz war Unternehmensberater, damit beschäftigt, Firmen zu zeigen, "wie sie mit immer weniger Menschen immer mehr Güter für immer mehr Menschen herstellen könnten, die nicht kaufen können, hm" und ist, als er den Krieg herbeiwünscht, schon selbst ausgestoßen aus der Produktion und sei es aus der von Ideologie. Der unverwüstliche Optimismus, mit dem Stutz später selbst noch Bettler bei der Verbesserung ihrer Performance berät, zeigt eine nach außen gekehrte Fröhlichkeit, einen selbstgenügsamen Aktivismus, die die Nichtigkeit des Herrschenden - und leider nicht allein der Herrschenden - betont. Es ist die Schläue der Dummen, die triumphiert: "Roh, schlau und zu allen Dingen geschickt, ohne nachhaltigen Vorteil daraus zu sichern. Talente zu kleinen Pfiffigkeiten, deren Erträge entweder sofort vergeudet oder Banken und Advokaten überlassen wurden bis zur Auspfändung von Haus und Hof."

Statt darum, Arbeit zugunsten eines Bereichs der Freiheit effektiv zu gestalten, geht es heute darum, Arbeit zu schaffen (wofür die, die sie verrichten dürfen, Dankbarkeit zu zeigen haben): das allein schon zeigt die Absurdität des Bestehenden. Piwitts kluge Verneinung aber geht weit darüber hinaus: bis zum Zorn, geboren zu sein, bis zur Erkenntnis des Verlusts, den Altern bedeutet. Hier geht es um den Erzähler, um den und um dessen Verluste der zweite Teil mit dem Romantitel "Jahre unter ihnen" zentriert ist. So deutlich anfangs Ich und Bruder kontrastiert waren, so sehr verwischt sich nun der Unterschied. Auch die Geschichte des Erzählers ist eine der Reduktion: die weltkluge und lebenssatte Geliebte Carla verliert er ebenso wie das italienische Refugium, wie jede materielle Absicherung. Am Ende bettelt er, von Stutz beraten. Körperlich verfallen, ähnelt nun der Erzähler dem König Friedrich, der ironisch als "Dynast" bezeichnet ist, obwohl gerade er keinen Thronerben hinterließ und in seiner allein auf Hunde fixierten Liebe dem Menschengeschlecht so gründlich die Fortpflanzung versagte wie der Erzähler es sich stolz bescheinigt: "Ich dachte: nie ein Haus gebaut, nie ein Kind gezeugt, nie bei einer Hure gewesen. Soweit die Haben-Seite. Ich habe nichts versäumt. Ich hätte gerne gelebt."

Die Schlusswendung, die so wenig zur Verneinung zuvor zu passen scheint, zeigt, wie der Roman gerade nicht in jener Negation des Lebens aufgeht, die Piwitt seinen Erzähler in immer neuen boshaften Sentenzen formulieren lässt. Doch sind beide Seiten nicht zu trennen: Der Zorn auf das Gegenwärtige ist durch das Wissen begründet, dass ein anderes Leben möglich wäre. Zudem ist jenes Andere bei Piwitt nicht nur in der Negation präsent. Am auffälligsten zeigt es sich in einigen Frauenfiguren, die sich, wie Carla, einer entfremdeten Schwundform des Lebens verweigern; womit auch schon die einzige Schwäche des Buchs benannt ist, dass nämlich diesen Frauen etwas zu viel an Repräsentanz des Besseren aufgebürdet ist.

Weitaus überzeugender geraten die genauen Naturschilderungen. Piwitt versteht es, mit wenigen Sätzen das Besondere einer Landschaft zu umreißen. Seine Natur ist nie menschenloses Gegenbild zur Gesellschaft: Zweimal erscheint Friedrichs Park von Sanssouci als Treffpunkt von Liebespaaren, und der See, der dem Erzähler über Jahre hinweg zum Rückzugraum dient, ist ein funktionslos gewordener Stausee, also ebenfalls Menschenwerk. Und sogar bei den Menschen, sogar bei den energischsten Antreibern des Schlechten, gibt es Anzeichen einer Liebe zur Fülle; wie bei Stutz, der zwischendurch als verschwenderischer Koch und Gastgeber auftritt, für den aber der Genuss gleich wieder in die herrische Geste umschlägt, mit der er die Welt erklärt.

Da droht, von Piwitt mit großen Lettern markiert, der "ROMAN", abgelehnt als Form, die mit ihren erzählerischen Konventionen noch eine bruchlose Welterklärung verspricht, doch zuletzt eingelöst in der anschaulichen Wiedergabe mindestens dreier Lebensgeschichten. Erzählt wird durchaus - nur ist die Ordnung des Erzählens eine andere als die des säuberlichen Nacheinander. Damit verweigert sich Piwitt aktuellen Anforderungen an vorgeblich lebenskräftiges Erzählen, die zwar mittlerweile ein Spiel mit mehreren Zeitebenen tolerieren, aber nur, wenn der Autor eine Auflösung mitliefert. Sobald das Prinzip erkannt ist, lesen sich solche Romane kaum anders als wären sie aus dem 19. Jahrhundert. Piwitts Bauprinzip ist ein anderes: das der Variation von Motiven, die die beiden Teile auf vielfältige Weise miteinander verbinden. So ist kaum etwas vorhersehbar, und sein Roman behält die Spannung, die viele einfacher konstruierte Bücher nach fünfzig Seiten verlieren. Das ist weniger mühsam für die Leser als es klingt, denn schon ein oberflächlicher Blick findet eine Vielzahl anschaulicher Schilderungen und zugespitzter Einsichten. Doch ist man mit dem Roman lange nicht fertig, entdeckt man bei genauerem Hinsehen eine Vielzahl von Bezügen, ein fast musikalisches Muster (und von Musik ist auch oft genug die Rede).

Dass noch über das Nichtige so kunstvoll erzählt werden kann, widerlegt die Vermutung, hier tobe jemand einfach nur seinen Nihilismus aus. Damit siegt keinesfalls ein platt Positives und bleibt die falsche Ordnung so klar benannt wie das Skandalon des Alterns, das durch keine Revolution aus der Welt zu schaffen ist. Doch gerät mit den Schlusssätzen ein Ruhepunkt in Sichtweite, der ambivalent zwischen Tod, Trunkenheit und Erfrischung changiert: "Ich wußte nicht, was ich wollte, ich wäre am liebsten gestorben. Da wär's auf einmal stillgewesen. Ich trank die nächste Flasche Mariacron. Ich tauchte das Gesicht in das Brunnenwasser."


Titelbild

Hermann Peter Piwitt: Jahre unter ihnen. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
126 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3835300822

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