Von Muscheln und Menschen

"Der Muschelsammler" versammelt acht Erzählungen Anthony Doerrs

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag der Titel auch Gegenteiliges suggerieren: "Der Muschelsammler" ist keineswegs ein weiterer, in Cornwall oder Sussex angesiedelter Roman der englischen Grand Dame populärer Unterhaltungsliteratur, sondern vielmehr das hoch gelobte und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Erstlingswerk des Amerikaners Anthony Doerr. Bei einigen amerikanischen Kritikern riefen die acht in diesem Band versammelten Geschichten regelrechte Begeisterungsstürme hervor: Doerr habe mit seinen Erzählungen die "ur-amerikanische" Form der "short story" endlich wieder aus dem trivialen Tal der Bedeutungslosigkeit geführt, enthusiasmierte sich der "Plain Dealer", und der Rezensent des "Philadelphia Inquirer" stellte begeistert fest, dass Doerrs Geschichten nicht nur wunderbar geschrieben seien, nein, sie ähnelten gar denen von D.H. Lawrence, Hemmingway, DeLillo und Tolstoi.

Zwar bedarf es wohl besonderer exegetischer Finesse, um in "Der Muschelsammler" Spuren von D.H. Lawrence zu entdecken, doch unabhängig von der Frage, an welchen literarischen Ahnherren sich Doerr tatsächlich orientiert haben mag, lässt sich zunächst feststellen, dass seine Erzählungen deutlich von der Vorliebe der so genannten "Postmoderne" für exotische Berufe und ungewöhnliche Schauplätze gekennzeichnet sind: Hellseher, Eisenesser, Telepathen und Naturforscher finden sich an einsamen Stränden der kenianischen Küste, den eingeschneiten Wäldern Montanas, dem Dschungel Tansanias oder auch lappländischen Mooren und gehen an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort allesamt der Frage nach ihrer Identität nach. Diese wiederum wird nicht zuletzt gerade durch das häufig (über-) deutlich symbolische Verhältnis der Protagonisten zur Natur beantwortet.

Auch den eponymen, ansonsten aber namenlosen Muschelsammler der ersten Geschichte beschäftigt die Frage nach seinem Selbst: Er ist ein von früher Kindheit an blinder, mittlerweile emeritierter Malakologe ("Weichtierkundler"), der sich von der Welt zurückgezogen hat, um sich in aller Abgeschiedenheit seiner Beschäftigung mit Schnecken widmen zu können. Um seine selbstgewählte Einsamkeit ist es jedoch geschehen, als sich durch einen Zufall herausstellt, dass der eigentlich tödliche Biss der Kegelschnecke Malaria zu heilen vermag. Neben einer Vielzahl von Hilfesuchenden taucht bald auch sein Sohn Josh auf, dessen Gutmensch-Habitus nicht nur den Vater enerviert; aufgrund eigener Unvorsichtigkeit fällt der Junior jedoch schon bald dem tatsächlich letalen Biss einer Schecke zum Opfer.

Daneben erhält der Protagonist auch unliebsamen Besuch von zwei Reportern, die er für eine Schrecksekunde mittels einer Conus-Schnecke zu vergiften plant; doch während er diesen Plan verwirft, wird er von der perfiden Molluske gebissen, die er zwecks Ausführung seines verbrecherischen Vorhabens aus dem Meer gefischt hatte, und fällt selbst in ein Koma, aus dem er jedoch letztlich weitgehend unversehrt - dafür aber auf wundersame Art geläutert - wieder erwacht.

Bei dieser Geschichte mag sich eine an allzu viel Realismus und Plausibilität gewöhnte Leserschaft fragen, wie dem Muschelsammler (der eigentlich eher ein Schneckensammler ist) in völliger Ermangelung seines Augenlichts bis dato das Kunststück gelungen sein mag, hochgradig giftige Meeresbewohner aufzuspüren, ohne gebissen, gestochen oder sonst wie verletzt worden zu sein; angesichts des Primats der kreativen Freiheit des Autors erscheint diese Frage jedoch zugegebener Maßen etwas unfair.

Auch für die folgende Geschichte ist Plausibilität ein denkbar schlechtes Beurteilungskriterium: Die übersinnlich begabte "Frau des Jägers" erkennt während eines langen Winters in den Bergen Montanas in einer Art Winterschlaf ihre Fähigkeit, die Emotionen sterbender oder bereits gestorbener Lebewesen nachzuempfinden und mittels Berührung ihre Empfindungen auch an andere Menschen zu übertragen. Während ihren Mann diese Fähigkeit (verständlicher Weise) zunächst abschreckt, wird die Frau im Laufe der Zeit zu einer internationalen Berühmtheit. Erst nach Jahren der Trennung kann sich der Jäger dazu durchringen, an einer Demonstration ihrer Fähigkeiten teilzunehmen und dabei ihre grundlegende Andersartigkeit zu akzeptieren.

Damit wird auch eines der Hauptthemen des Bandes angesprochen: Die Aussöhnung mit sich selbst durch die Aussöhnung mit dem Anderen. Überdeutlich wird dies in der (ansonsten eher langatmigen) Geschichte "Mkondo", in der ein amerikanischer Wissenschaftler, der in Afrika ein prähistorisches Vogelskelett für ein Museum erwerben soll, neben dem Fossil auch seine frisch angetraute afrikanische Ehefrau mit in sein Heimatland bringt. In mehreren symbolbeladenen Episoden wird von den Schwierigkeiten der Frau berichtet, sich in einer Situation zurechtzufinden, die ihr zunehmend als Gefangenschaft erscheint. Es gelingt ihr schließlich, dem ungeliebten Land zu entfliehen und nach Afrika zurückzukehren. Doch erst als sich ihr Mann entschließen kann, radikal mit seinem bisherigen Leben zu brechen und sie in Afrika zu suchen, kann es zu einer echten Verbindung zwischen beiden kommen.

Der Gegensatz zwischen Partnern ist dabei in Doerrs Erzählungen häufig auch ein Gegensatz der Welt-Anschauungen. So steht etwa die Rationalität des Wissenschaftlers in "Mkondo" diametral zu dem deutlich emotional bestimmten In-der-Welt-Sein seiner Frau. Gerade sein Versuch, sich Natur durch Benennen und Klassifizieren anzueignen, stößt bei ihr nur auf Unverständnis: "Die Leute dort waren besessen von Namen und Klassifizierungen, als ob der erste Schmetterling mit orangefarbenen Flügeln mit dem Namen Anthocharis cardamines aus seinem Kokon gekrochen sei, als ob das Wesen der Farne durch ein getrocknetes, auf Pappe geheftetes Exemplar mit dem Namen Dennstaedtiaceae erklärt würde." Dieses prä-reflexive, spontane Verhältnis zur Natur kennzeichnet auch die Läuterung des Muschelsammlers, der am Ende der Geschichte beim Anblick einer Schnecke nicht mehr daran denkt, sie zu klassifizieren, sondern nur noch ergriffen murmelt: "Wunderbar".

Sprachlich zeichnen sich Doerrs Erzählungen durch eine bemerkenswert lyrische Qualität aus, die nur selten durch klischeehafte und pseudo-poetische Ausrutscher gestört wird, wie etwa dem "myriadenfache[n] Erschauern" aufziehender Sterne, der Beschreibung Chicagos als "Galaxie elektrischer Lichter" oder auch dem "glitzernde[n] Band", das die Sonne der Protagonistin in "So viele Chancen" "[v]on jenseits der Bucht [zu]wirft". Inhaltlich wiederum wirken insbesondere die symbolisch überfrachteten Erzählschlüsse meist zu forciert, um wirklich überzeugen zu können. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass Doerr hier nur ein begrenztes Repertoire an erzählerischen Denouements bietet: So wirkt etwa "Mkondo" wie eine Variation von "Die Frau des Jägers" und das bedeutungsschwere Zurückwerfen eines eben gefangenen Fisches ins Wasser beendet sowohl "So viele Chancen" als auch "Der 4. Juli". Gerade in letzterem Fall ist es ausgesprochen schade, dass sich Doerr zu einem moralisierenden Ende entschieden hat, da die Geschichte einer Horde dauerbetrunkener amerikanischer Angler auf der zunächst erfolglosen Jagd nach einem Riesenfisch ansonsten durchaus an die humoristischen Meriten eines Bill Bryson heranreicht.

Dennoch: "Der Muschelsammler" überzeugt trotz der geäußerten Einwände vor allem sprachlich: Mit wenigen Worten gelingt es Doerr, Szenerien zu entwerfen und die Stimmungen seiner häufig skurrilen Charaktere einzufangen. Insgesamt wird die Lektüre des Bandes sicherlich nicht nur Malakologen Vergnügen bereiten.


Titelbild

Anthony Doerr: Der Muschelsammler.
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406556159

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch