Bis das der Tod uns scheidet

Annette Pehnts Roman "Haus der Schildkröten" über das Altwerden

Von Amira SarkissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Amira Sarkiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeden Dienstag gehen sie in das Seniorenheim "Haus Ulmen", um ihre Eltern zu besuchen. Regina ihre Mutter, die nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt und nicht mehr sprechen kann. Ernst seinen körperlich noch rüstigen, aber geistig verfallenden Vater, einen ehemaligen Professor. Jeden Dienstag versorgt Regina die einst dominante, jetzt stumm gewordene Mutter mit Orangensaft und ununterbrochenem Gerede, während Ernst sich bemüht, seinen dementen Vater immer wieder aufs Neue an sich zu erinnern.

Jeder Dienstag ist eine traurige Last, der sie sich doch immer wieder beugen, hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung, Wut und Schuldgefühlen. Nur einmal schwänzen beide am gleichen Tag, heimlich wie Schulkinder, den Heimbesuch und begegnen sich in einer Sauna. Die beiden eher unattraktiven, nicht mehr ganz jungen Erwachsenen, deren eigenes Alter sich schon in Form von Kahlköpfigkeit und Orangenhaut unschön andeutet, beginnen eine Liebesaffäre, die jedoch einen gemeinsamen Urlaub nicht überdauert. Das Ende kommt ebenso wie der Anfang - ohne viele Worte.

Die Beziehung scheitert auch wegen der abwesend-anwesenden Eltern, die Regina und Ernst selbst im luxuriösen Ferienresort nicht loswerden, aber das Scheitern vollzieht sich ohne viel Aufheben, so, als hätten sie es nicht anders erwartet. Der geschiedene Ernst und die immer schon allein lebende Regina sind zwei Einsame, die sich verzweifelt bemühen, den Eltern zu geben, was sie ihnen schuldig zu sein meinen, verheddern sich jedoch in Geschenken, Pflichtbesuchen und kindlichem Umsorgen, statt den Alten wirkliche Nähe zu geben.

Bedrückend ist dagegen die unfreiwillige Nähe, die die Bewohner des an sich tadellos geführten Heims über sich ergehen lassen müssen. Nicht gewollte Intimität, entmündigende und dadurch entwürdigende Behandlung machen aus den Bewohnern wieder Kinder, die versorgt werden müssen. Dazu passen die kindischen Bastel-, Gymnastik- und sonstigen Veranstaltungen, die ebenso an einen Kindergarten erinnern wie die regelmäßige Begehung der christlichen Jahresfeste. Anlässlich des Erntedankfestes heißt es in der Predigt des Pfarrers: "Der Herbst ist die Zeit der Ernte, wir bekommen zurück, was wir gesät haben, und alles ist reichlich." Betrachtet man jedoch diese Alten, erscheint ihr Lebensabend nicht als "goldener Herbst" sondern als kalter, farbloser Winter. Und das, obwohl keiner wirklich etwas falsch macht, jeder bemüht sich und will nur das Beste - angefangen von der engagierten Heimleitung über das Pflegepersonal bis hin zu den Angehörigen und ihren Eltern. Wie es aber dennoch zu dem von Ernst lapidar geäußerten Satz: "Bevor ich in ein Heim gehe, bringe ich mich um" kommen kann, schildert Annette Pehnt in vielen, wie beiläufig erzählten Alltagssplittern.

Es wird nicht wirklich klar, wer wann warum und woran gescheitert ist, keine Lebenslügen werden aufgedeckt, weder bei den Eltern noch bei deren Kindern. Jeder führt ein irgendwie unvollkommenes Leben und versucht, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Ernst beispielsweise leidet unter der Trennung von seiner kleinen Tochter Lili und will auf keinen Fall ein Wochenend-Papi sein, keiner von diesen "geschiedenen, getrennten, bemühten Vätern, die Immergleichen, die auf den Bänken sitzen und nicht Zeitung lesen, weil sie andächtig ihre seltenen Kinder anschauen." Er will seine Tochter an den Wochenenden auch nicht mit besonders leckerem Essen bestechen, sondern bemüht sich, ihr gesunde Kost vorzusetzen. Dennoch wünscht er sich nichts sehnlicher, als dass seine Tochter ihn beim Abholen vom Kindergarten "stürmisch" um den Hals fällt, muss sich aber damit abfinden, dass sie stattdessen lieber mit ihrer Freundin spielen würde und das von ihm herbeigesehnte Wochenende mit dem bedauernden Satz abtut: "Heute muss ich zu meinem Papa." Auch sein Versuch, Lili mit dem Kauf von Kuscheltieren das Einschlafen in seiner Wohnung zu erleichtern scheitert kläglich, weil das von ihm nach langem Suchen ausgewählte Krokodil der kleinen Lili Angst macht.

So erzählt Annette Pehnt vom alltäglichen Dilemma der Liebe, indem sie die gegenseitige Abhängigkeit aller Beteiligten, aus der es kein Entrinnen gibt, beschreibt und dabei lapidar schildert, wie die vielen, scheinbar kleinen Alltagssituationen verstören können. Obwohl man das Beste will, fühlt sich alles nur unvollkommen an. Mit dem ihr eigenen trockenen Humor malt Pehnt aus, wie eigenartig das Leben zerfasert - im Leben der erwachsenen Angehörigen durch das hilflose Bemühen, immer das Richtige zu tun, während im Haus Ulmen jede Woche in "Kirschkuchen, Käsekuchen, Schwarzwälder" zerbröselt. Das ist irgendwie traurig, aber keiner hat Schuld daran.


Titelbild

Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. Roman.
Piper Verlag, München 2006.
184 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3492049389

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch