Gnomik und Komik

Frank Böckelmanns und Walter Seiters Sammelband über die Vielfalt der Gesichter in der Geschichte

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht erst seit dem Zürcher Physiognomiker Johann Caspar Lavater glauben die meisten Menschen intuitiv, dass aus der Physiognomie etwas über die Seele einer Person zu erfahren sei. Der Versuch, durch methodische Lektüre der körperlichen Erscheinung eines Menschen das Gegenüber zu ,lesen', unternimmt die Philosophie seit jeher. Dass die Deutungsmuster bestimmten Moden unterworfen sind, ist nicht nur dem Kenner der Physiognomik-Geschichte klar: Von der pseudowissenschaftlichen Phrenologie des 19. Jahrhunderts zur erkennungsdienstlichen Biometrie ist es nur ein kleiner Schritt - allein mit welch differenten Deutungsansprüchen!

Diesem Zusammenspiel von Mode, Miene, Mimik, Gnomik und (gelegentlich auch) Komik hat sich die Kulturwissenschaftliche Zeitschrift "Tumult" in ihrer neuesten Ausgabe angenommen. So weit das Gebiet, so notwendig die Beschränkung, zumal im Rahmen einer Zeitschrift - und mag sie noch so ansprechend gelayoutet sein. In produktiver Durchkreuzung herrschender Diskursmoden, wie sie in Journalismus und Hochschule gepflegt werden, erstreckt sich der abgesteckte Horizont von semiotischen Standortbestimmungen in der Nachfolge von Deleuze/Guattari über Gespräche mit plastischen Chirurgen bis zum Maskenforscher Claude Lévi-Strauss. Neben etablierten Publizisten (Claudia Schmölders etwa schreibt als ausgewiesene Kennerin zum Schweißtuch von Manoppello) finden sich auch erfreulich viele jüngere Autoren. Das Anliegen der Herausgeber (auch sie jung wie der eben neu aufgelegte "Tumult") ist es, die Geschichtlichkeit von Gesichtern herauszustellen, ihre modischen Schwankungen den Ursuchen nach zu ergründen, aber auch Perspektiven zu entwickeln. Das Staunen angesichts der Vielfalt lässt in wenigen Beiträgen einige Trennschärfe vermissen (etwa der Aufsatz von Sven Hanuschek zu Rudolf Kollers Rinderphysiognomien); in anderen wird brillant die Gesichtlichkeit aus dem Diktat der Zeichenregimes filtriert (Anne Sauvagnargues). Die verdienstvolle deutschsprachige Erstveröffentlichung von Sergej Eisensteins "Prinzipien der Typage" zeigt die Geburt der russisch-avantgardistischen Filmcharaktere aus dem Geiste der Commedia dell'Arte (oder doch eher dem jiddischen Theater?), und welcher neurologische Zusammenhang zwischen der Widererkennbarkeit von Schaf- und Menschengesichtern besteht, zeigt Steffanie Metzger gewinnbringend auf.

Dazwischen blitzt die wächsernen Fotomalerin Loretta Lux' auf, die ihren ganz eigenen Reiz auszuüben vermag und den Strom der Diskurse abermals gewinnbringend verbreitert. Flankiert werden all diese ebenso unterhaltsamen wie gelehrten Ausführungen von Werbeimagi der 50er und 60er-Jahre, die je anders, je individuell das Gesicht zum Thema haben.

Auch das beigegebene Heft mit (analogen!) Schreibmaschinenabschriften (etwa aus William Hogarths "Analyse der Schönheit" in der unbedingt wieder zugänglich zu machenden Mylius-Übersetzung) reiht sich in das Konzept einer Versponnenheit, die ihren Gegenstand anreißt, statt ihn zu erschöpfen.


Titelbild

Frank Böckelmann / Walter Seitter (Hg.): Gesichtermoden.
Alpheus Verlag, Berlin 2007.
87 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3981121406

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