Der durchdringende Blick

Emmanuel Boves existentialistischer Tagebuchroman

Von Hans Magnus PechelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Magnus Pechel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der sensible Louis ist fünfzehn Jahre alt, als er von seinem Vater in ein Internat geschickt wird. Dort soll er seinen Charakter "stählen" und sich für das "Leben rüsten". Am Abend vor der Abreise liegt er im Bett und wird von Melancholie ergriffen. Jahre später erinnert sich der inzwischen erwachsene und verheiratete Verfasser des "Journal - geschrieben im Winter" an diese Episode seiner Jugend. Unter der Bettdecke versteckt, unterdrückt Louis seine Tränen, als die Eltern an das Bett treten und der Vater ihn ermahnt, er solle sich doch als "großer Junge" nicht mehr so seinen Emotionen überlassen. Die Hellsichtigkeit, mit der der Vater die Tränen bemerkt hat, ohne das Gesicht des Sohnes sehen zu können, versetzt den jungen Louis in Erstaunen. Sie wird später zum dominanten Charakterzug des erwachsenen Mannes.

Bereits in diesem frühen Eintrag vom 12. Oktober offenbart der Erzähler zentrale Motive seines "Journals": Louis' Denken kreist einerseits beinahe manisch um seine Frau Madelaine und deren Beziehung zu ihm, andererseits verliert er sich immer wieder in Reflexionen der Vergangenheit. Auf mehreren Seiten erinnert er sich an seine Jugendliebe Lucienne. Immer wieder beteuert er seine damalige Liebe zu ihr - und schildert im nächsten Satz mit pedantischer Genauigkeit, wie er sie trotzdem zwanghaft mit seinen Launen und Boshaftigkeiten quälen musste. Seit dieser Zeit verfolgt ihn ein Schuldkomplex, und er fürchtet noch Jahre später widersinnigerweise, dass er für seine Gemeinheiten von Luciennes Vater öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden könnte.

Louis durchdringender Blick versetzt ihn in die Lage, seine eigenen Gefühlsregungen ebenso wie die seiner Frau und seiner Freunde zu analysieren. Weder der eigene Neid auf den gesellschaftlichen Erfolg seiner Bekannten noch die Gedanken und kleinen Eitelkeiten seiner Frau oder der anderen Figuren bleiben in der Sphäre des Unbekannten oder Unausgesprochenen. Dadurch, dass er alle zu durchschauen glaubt und sich selber durchschaut fühlt, bleibt ihm nur noch die passive Rolle als Beobachter seines eigenen Lebens. Der Schreiber des Tagebuchs agiert dabei gleichzeitig als eine Art allwissender Erzähler, dem nichts verborgen bleibt. Boves hybride Erzählerkonstruktion gibt der schonungslosen Beziehungs- und Selbstanalyse seines Tagebuchschreibers Louis eine Spannung, die nicht ohne Reiz ist.

Neben seinem Schuldkomplex resultiert Louis' Melancholie aus dem schier unerschöpflichen Reservoir abendländischer Melancholietradition: dem Bewusstsein um Vergänglichkeit und Tod, der Erfahrung des Älterwerdens. Natürlich hat diese Gefühlslage katastrophale Folgen für seine Beziehung zu Madelaine: "Das tiefste Verständnis, das Verständnis, das mir bis zum heutigen Tag die Grundlage einer jeden Liebe zu sein schien, ist unnütz. Es nützt nichts, seine Mitmenschen zu verstehen. Ja, die Mutlosigkeit, die auf mir lastet, ist schrecklich. Ich bin über vierzig Jahre alt, und da stehe ich nun, wie am Anfang meiner Existenz." Das lesen wir im letzten Eintrag vom 2. Februar. Am Schluss steht Louis' Entschluss, allein zu leben. Aber er weiß auch, dass eine Existenz eine "Nichtigkeit gleich allen anderen" ist.

Emmanuel Boves Tagebuchroman wurde erstmalig1930 in Paris veröffentlicht und liegt jetzt in einer deutschsprachigen Übersetzung von Gabriela Zehnder vor. Dieses Tagebuch einer Depression, die in der Jugend des Verfassers begonnen hat, nimmt mit seiner existentiellen Analyse des Lebens Motive des französischen Existentialismus vorweg.

Titelbild

Emmanuel Bove: Journal, geschrieben im Winter. Roman.
Edition Epoca, Zürich 1998.
213 Seiten, 20,20 EUR.
ISBN-10: 3905513102

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