Ein Herz für Vögel

Jonathan Franzen hat mit "Die Unruhezone" ein in hübsche Prosa gekleidetes Manifest des Linksliberalismus vorgelegt

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis wir begriffen haben, dass mit dem Kollaps der realsozialistischen Staaten um 1990 der Welt nicht nur der Staatssozialismus abhanden gekommen ist. Seither erodiert auch etwas, das uns Deutsche - zumindest im Westen - über Jahre und Jahrzehnte viel mehr geprägt hat: der Linksliberalismus.

Natürlich ist er nicht verschwunden. Parteipolitisch finden sich Linksliberale von den Grünen über FDP und SPD bis zur Union; medial kann man sich in zahlreichen Magazinen und Zeitungen auf die Suche machen und durchaus auch fündig werden - derzeit vor allem in der "taz". Auch in der Gesellschaft sind immer wieder linksliberale Stimmen zu vernehmen. Doch man muss schon sehr genau hinhören, und wenn man das tut, wirken die Stimmen seltsam ruhig und gehemmt.

Kein Vergleich mehr also zu den Hochzeiten der Linksliberalen, den goldenen Siebzigern und den silbernen Achtzigern, als eine weltoffene, aufgeklärte und in Ansätzen gesellschaftskritische Stimmung den Meinungsmainstream bildete oder stark beeinflusste.

Das war in den USA nicht anders. Nie zuvor hatten die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung so viel Zulauf, und nie wieder danach war sie auch in den Medien so präsent. Doch auf den seit John F. Kennedy wohl liberalsten US-Präsidenten Jimmy Carter folgte in den Achtzigern Ronald Reagan. Und mit ihm kehrte eine Haltung in die Gesellschaft ein, die die Maxime von Aufklärung und Gerechtigkeit mit einem Dollarharten "Bereichert Euch!" vom Tisch wischte.

Jonathan Franzen hat all das erlebt. Nicht nur in den USA, deren Staatsbürger er ist, sondern auch in Deutschland, wo er (unter anderem in München und Berlin) studiert hat. Sein neues Buch "Die Unruhezone" erzählt von genau dieser Zeit und von genau diesen Brüchen. Wenn es in Romanen und autobiografischen Berichten wirklich um die Handlung ginge, dann könnte man diese so zusammenfassen: Nach dem Tod der Mutter kehrt Jonathan ins elterliche Heim zurück, um es schnellstmöglich zu verkaufen. Die vielen Erinnerungen im Haus aber lassen ihn sein Leben gründlich, wenn auch sprunghaft, reflektieren.

Sprunghaft meint: mal geht es um christliche Jugendgruppen, mal um den 12-jährigen Streber Jonathan, der so gerne mal cool wäre, statt immer nur im sozialen Abseits zu stehen. Hier werden seitenlang Charlie Brown und die Peanuts analysiert, dort steigt der schon erwachsenen Franzen in die professionelle Vogelbeobachtung ein, da referiert er seine Verwirrung in der Studienzeit zwischen einem Überangebot toller Bücher und einem totalen Mangel an Sex. Jugendstreiche weichen pubertären Allmachtsfantasien, ältere Brüder werden bewundert und vom Stil her kopiert.

Doch jeder dieser Erinnerungsfetzen wird von einem unsichtbaren Band zusammengehalten. Dieses Band ist das des Linksliberalismus. Aufgewachsen "im goldenen Zeitalter der amerikanischen Mittelschicht" in Webster Groves, nahe St. Louis, von liebevollen Eltern und kumpelhaften Brüdern behütet ("Ich steckte als Kokon in Kokons, die ihrerseits in Kokons steckten"), entfernt sich Jonathan rasch von seiner Umgebung. Die Mutter erscheint ihm "konformistisch und heillos besessen von Geld", der "Vater schien mir gegen jede Art von Spaß allergisch".

Konformismus, eine Fixierung aufs Geld und Humorlosigkeit sind denn in der Folge auch die Eigenschaften, die Franzen mit allen Mitteln zu vermeiden sucht. Sie bilden, wenn man so will, die Axiome seines linksliberalen Manifestes.

Nur wenig später heißt es schon: "Meine Eltern wurden älter, und meine Brüder und ich flohen das Zentrum geographisch und landeten an den Küsten, und parallel dazu floh das ganze Land das Zentrum wirtschaftlich und landete bei einem System, in dem das reichste Bevölkerungsprozent heute sechzehn Prozent des Gesamteinkommens verdient (1975 waren es noch acht)." Solche Statistiken sind Franzens Ding, und zwar nicht erst, seit er erwachsen ist. Er selbst nimmt sich als steif, professoral und schüchtern wahr. Egal ob in der Schule, in der kirchlichen Gemeinschaft oder in der Familie, "es war, als ginge ich mit einem Schild durchs Leben, auf dem LASST IHN IM DUNKLEN TAPPEN stand."

Aber es ist genau diese Stellung am Rande der Gesellschaft, die ihm alles einbringen wird, was man als Linksliberaler so braucht: am Alleinsein nicht zu leiden, sich mit anderen Außenseitern zu verbünden, auch wenn es Tiere sind (Vögel bezeichnet er als seine "Nonkonformisten-Freunde"); eine gute Beobachtungsgabe, einen flinken Intellekt und die Sinnlichkeit des Augenblicks, Zweifel an Autoritäten, viel Unabhängigkeit, fundierte Selbstkritik, das Wissen um die eigene Peinlichkeit; einen trockenen Humor, darauf zu bestehen, manchmal auch in Ruhe gelassen zu werden; die Gabe, zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle laut "Scheiße" zu sagen und sich anschließend dem, was als "Scheiße" empfunden wurde, konsequent zu verweigern, Solidarität mit den Schwachen zu zeigen (auch wenn es Vögel sind) und so weiter.

Was hat Franzen nur immer mit seinen Vögeln? Gibt es nicht genug Arme und Schwache in den USA, denen er seine Sympathie schenken könnte? "Vögel hatten ein kurzes Leben und einen langen Sommer. Wir alle müssten das Glück haben, solche Erben zu hinterlassen", antwortet Franzen auf solche Fragen. Er schreibt auch über die Dezimierung von Wäldern und Naturparks durch diverse US-Regierungen, und die Auswirkung solcher Maßnahmen auf die Vögel, "die immer ärmer werden". Das erspart ihm jämmerliche Sozial- oder engagierte Ökoprosa, und auch so weiß jeder, was gemeint ist.

Am Ende skizziert Franzen, mittlerweile erwachsen und als Autor sehr erfolgreich, sein linksliberales Bewusstsein in einigen Miniaturen. An einer Stelle heißt es, "warum soll ich mich eines verfügbaren Vergnügens enthalten?" An einer anderen: "Ich trinke an einem Dienstagabend Martini, ich glotze auf Bierwerbungsdekolletés, ich bezeichne jede Gruppe, der ich nicht angehöre, als uncool, ich verspüre den Drang, Range Rover zu ritzen und ihnen die Reifen zu zerstechen; ich tue so, als würde ich nie sterben."

So verstanden verscherzt es sich der Linksliberalismus mit allen Fundamentalismen zugleich: jenen der Ökologie genauso wie jenen der religiösen Moral, aber auch mit den Borniertheiten von Konsumprotz und politischer Macht. Selten war Linksliberalismus so einfach zu verstehen und kam dabei auch noch in so einer adretten Form daher: als intelligente, hinreißende und vergnügliche Öffnung zur Welt. Das macht ihn sympathisch. Und entschieden. Zeit dafür war's ja mal.


Titelbild

Jonathan Franzen: Die Unruhezone. Eine Geschichte von mir.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498021160

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