Familienmythen

Iris Radisch erfindet in "Die Schule der Frauen" die Familie neu

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte zur Abwechslung ja mal Ulrich Horstmann, Karim Akerma und Ludger Lütkehaus oder ihre pessimistischen und miserabilistischen Vorgänger Arthur Schopenhauer, Julius Bahnsen und Philipp Mainländer fragen, was der ganze Hype um die Menschheit überhaupt soll, und ob es nicht vielleicht besser wäre, sie wäre nicht, womit sich die ganze Aufregung darüber, dass die Frauen hierzulande angeblich zu wenig Kinder bekommen, erledigen könnte.

Iris Radisch ist diese Frage nicht unbekannt, doch schenkt sie ihr in ihrem Essay "Die Schule der Frauen" keine größere Beachtung (was man ja wiederum auch nicht unbedingt tun muss), sondern setzt voraus, dass die Existenz der Menschheit schon ganz in Ordnung gehe, und wendet sich sogleich jenen "drei Dinge[n]" zu, die "uns", wie sie etwas vereinnahmend sagt, derzeit nicht nur stärker umtreiben als die Frage, ob eine Menschheit sein müsse, solle oder auch nur dürfe, sondern uns mehr beschäftigt als überhaupt "alles andere": "Wir haben zuwenig Kinder. Die Geschlechterwelt ist aus ihrer jahrhundertealten Bahn geschleudert worden. Und das System Familie kollabiert."

Diesem Befund schließt sich nicht nur für die Lesenden, sondern auch für die Autorin die Frage an, ob dass denn überhaupt alles so schlimm sei. Nein, ist es nicht, antwortet Radisch und kann zumindest auf die Zustimmung des Rezensenten rechnen. "Der alten Heldenfamilie müssen wir keine Träne nachweinen, der Mutti-kocht-Vati-arbeitet-Ehe ganz sicher auch nicht. Auch weniger Kinder sind nicht zwingend ein biologischer Super-Gau, wie uns die Männer weismachen wollen." Das sehr viel dünner besiedelte Schweden etwa sei schließlich "ein herrliches Land", und das "nicht zuletzt deswegen, weil es dort so wenig Schweden gibt". Und überhaupt gebe es den beschworenen biologische Supergau ja "eher in Ländern mit ausgesprochen hoher Geburtenrate".

Wohl wahr. Und damit könnte ihr Essay eigentlich auch schon an sein Ende gelangt sein. Doch so einfach macht es sich Radisch nicht. Das wäre auch schade. Entginge "uns" in diesem Falle doch das Vergnügen, ein Buch zu lesen, das mit einer so leichten und oft so spitzen Feder geschrieben ist, dass man fast meinen könnte, Radisch habe sie sich von Hedwig Dohm ausgeliehen.

Dies heißt nun allerdings durchaus nicht, dass es an dem Buch nichts auszusetzen gäbe. Dass die Autorin gelegentlich einmal etwas zu sehr in eine ihrer Zuspitzungen verliebt ist, wird man ihr gerne nachsehen, zumal sie nicht ansteht, sie - meistens - sogleich wieder gerade zu rücken. Die Eloquenz der Autorin macht einen sogar geneigt, über den einen oder anderen Lapsus hinwegzulesen, etwa wenn sie den Mann für den ganzen Menschen nimmt, indem sie letzteren zum "anpassungsfähigste[n] Tier" erklärt, da es "sein Weibchen mit einer geschnitzten Knochenkette oder mit einer Ausfahrt im Porsche beeindrucken" könne. Und selbst die Substiution des Geschlechtstriebes durch einen ominösen "Fortpflanzungstrieb" möchte man fast verzeihen. Dies umso mehr als sich derlei Missgriffe an den Fingern einer Hand abzählen lassen, während Radisch andererseits auch sehr viel Kluges schreibt.

Mehr als an solchen Ausrutschern, die natürlich immer einmal unterlaufen können, mag man sich allerdings an ihren immerhin stets beredsam vorgetragenen Ausführungen zur Elternschaft stoßen. Dass sie von denjenigen, die sich dafür entscheiden, Kinder zu bekommen, eine "Moral der Verantwortung" einklagt, ist ja so verkehrt nicht. Wenn sie jedoch das "scheinbar unantastbare Recht auf mütterliche und väterliche Selbstverwirklichung" in Frage stellt, kommt sie dem Altherrenplädoyer des Primats der Kinder vor den Eltern gefährlich nahe. Wieso eigentlich soll dieses Primat gelten? Und wer wollte dann überhaupt noch Kinder bekommen? Radischs pauschale Behauptung, für Kinder sei das "Ende ihrer Ursprungsfamilie ein lebenslanger Schrecken", verschließt zudem die Augen vor all jenen Familien, in denen ein oft trunksüchtiger Vater Weib und Kinder regelmäßig zu verprügeln pflegt. Für diese ist das Ende der Familie nicht der Beginn, sondern das Ende des Schreckens.

Bedenklicher noch sind Radischs verklärend-kryptische Elogen auf das Elternglück, um das nur die "Eingeweihten" (eben die Eltern) wissen könnten, während alle Versuche, es "Nichteingeweihten" (den armen Kinderlosen) auch nur verständlich zu machen, von vorne herein zum Scheitern verurteilt seien. Denn "[d]ie Erfahrung der Anwesenheit" von Kindern sei "ein alles Vorhergehende umstürzender, das Herzzentrum berührender Eindruck von Lebendigkeit". Radischs bedauernswerte kinder- und darum ahnungslose Mitmenschen mögen sich angesichts der Beschwörung eines Außenstehenden unzugänglichen Insiderwissens - oder besser gesagt -empfindens - allerdings unangenehm an die esoterischen Glücksversprechen fernöstlicher Gurus erinnert fühlen. Doch die auch von Radisch geteilte Erkenntnis, dass es "aus objektiver Sicht keinen erklärbaren Grund" dafür gibt, "aus dem heraus es heute sinnvoll wäre, Kinder zu bekommen", kann gegen diese Mythisierung des Elternglücks als nur "subjektiv nachvollziehbare Sehnsucht nach Präsenz, die das Leben mit Kindern bedeutet", offenbar wenig ausrichten. Und so verlässt sich Radisch hier denn auch nicht mehr auf Argumente, sondern führt lieber einige Beispiele selbst erlebten Mutterglücks an.

Nach so viel Schelte heißt es nun allerdings, mindestens ebenso heftig zu applaudieren. Der Beifall gilt zunächst einmal Radischs Kritik an den herrschenden patriarchalen (Familien-)Verhältnissen. Denn ihre Hymnen auf Elternschaft und -glück machen sie durchaus nicht blind für die geschlechtsspezifischen Unterschied gelebter Elternschaft in unserer Gesellschaft. Mutter, erklärt sie, sei man "ewig". Sein Dasein als Vater könne ein Mann hingegen "ablegen wie ein kratziges Wäschestück". "Wenn das Kind oder die Mutter ihm keinen Spaß mehr machen, kann er seine Vaterschaft jederzeit an den Nagel hängen. Er kann sie dann auch ganz nach seinen Wünschen gestalten, kann sie ferien-, wochenend- oder hobbyweise ausüben." Dabei ist es nicht nur ein individuelles Fehlverhalten von Vätern, das Mütter "in die Historie zurückbeam[t]", schuld sind ebenso die "strukturelle[n] Unterschiede in der Elternschaft".

Deutlicher gesagt: Die Ursache dafür, dass hierzulande immer weniger Frauen bereit sind Kinder zu bekommen, liege darin, dass sie "nicht mehr unterdrückt und weniger benachteiligt" werden. Entsprechend sehen die gängigen Lösungsvorschläge dieses 'Problems' aus. Von "Bild" bis hin zu "Spiegel" und "FAZ" wird eine "männliche Propagandaschlacht" geführt, die tatsächlich "sehr nach Otto Weininger und der guten alten Zeit der Backenbärte" klingt. Im 21. Jahrhundert sei dies "mehr als nur ein hermeneutischer Skandal", wie Radisch zu Recht klagt. Dass gerade die gute alte Tante "Zeit" seit jüngstem nicht mehr in das misogyne Horn stößt, um den Frauen den Marsch zurück zu Windeln und Wäsche zu blasen, ist nicht zuletzt der Autorin des vorliegenden Buches zu verdanken, die dort als Redakteurin arbeitet.

Zwar betont Radisch am Ende ihres Essays, dass es kein Fazit gebe - was denn doch etwas enttäuschend wäre -, doch belässt sie es nicht dabei, sondern fordert nicht nur den "weitere[n] Ausbau des Betreuungssystems", sondern überhaupt "neue Arbeitsmodelle". Nachdem die Männer von der Hausfrauenehe ebenso profitierten wie die Wirtschaft von der "Rundum-Betreuung" der Kinder, sei es dringlicher denn je, die bereits vielfach geforderte "Familienzeit" nun gesetzlich zu verankern. Nur wenn diese für Mütter und Väter "großzügig gewährt" werde, sei es möglich, aus der "Sackgasse" hinaus zu gelangen.

Diese Veränderungen auf gesetzgeberischer und struktureller Ebene bilden jedoch nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung dafür, dass sich für Frauen Liebe, Arbeit und Kinder nicht länger ausschließen und es für sie endlich "mehr als die Wahl zwischen lauter Schrecknissen" gibt. "Freiheit in den Geschlechterrollen" und "Verlässlichkeit in der Liebe" sind Radisch zufolge mindestens ebenso wichtig. Wer möchte das bezweifeln? Nur kann man letztere schwerlich einfordern.

Als familiäre "Lichtgestalt" schwebt Radisch eine "gleichberechtigte, in etwa gleichaltrige, gleich gebildete und gleichermaßen beruflich engagierte Partnerschaft" vor. Und dazu - das ist wohl die wichtigste Feststellung und Forderung des Buches, für die seiner Autorin der lauteste Applaus gebührt - müssten sich nach Jahrzehnten der Frauenbewegung endlich auch die Männer bewegen. "[S]ie müssen die männliche Hälfte der Welt mit uns teilen und die weibliche endlich erobern."

Eine zweifellos berechtigte Forderung, die allerdings nicht ganz so neu ist, wie Radisch vielleicht meint. Erinnert sie doch sehr an den Slogan, den Feministinnen schon vor Urzeiten auf unzähligen Demonstrationen skandierten: "Die Hälfte der Welt für die Frau und die Hälfte des Haushalts für den Mann." Und eben darum trifft Radischs Vorwurf auch nicht zu, wenn sie sagt, die Frauenbewegung habe keine Antwort auf die Kinderfrage gefunden.


Titelbild

Iris Radisch: Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
160 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042583

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