Ehrenrettung einer "Trivialautorin"

Erika Dingeldey rehabilitiert die viel geschmähte Eugenie Marlitt

Von Almut VierhufeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Vierhufe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Marlitt": Wenn sie überhaupt noch jemand kennt, dann als Prototyp der so genannten Trivial-, Konsum- oder - etwas positiver konnotiert - der (anspruchslosen) Unterhaltungsliteratur. Mit dieser Wertung tritt sie auch in Literaturgeschichten zusammen mit Hedwig Courths-Mahler auf. Rührselig, kitschig, weltfremd, stilistisch und erzählerisch dilettantisch sind nur einige der abwertenden Epitheta, die Marlitts Romanen anhaften. Und doch war Eugenie Marlitt (eigentlich: Eugenie John, 1825-1887) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Bestsellerautorin im modernen Sinn. Sie ist untrennbar mit der, in ihren Anfängen politisch liberal, gar fortschrittlich orientierten Familienzeitschrift Ernst Keils, der berühmten "Gartenlaube" verknüpft, in der alle ihre Romane seit 1866 (vor der Buchausgabe) zunächst in Fortsetzungen mit unglaublichem Erfolg erschienen. Allein Marlitts Romane sicherten der "Gartenlaube" von Jahr zu Jahr eine stetig wachsende Auflage, reißenden Absatz und somit ein stabiles wirtschaftliches Fundament. Bereits zu Lebzeiten wurde Marlitts Name zum Appellativum: Urteile wie "im Stile der Marlitt", "marlittmäßig" oder "Marlitt-Stil" waren allerdings alles andere als Qualitätsmerkmale innerhalb des literarischen Betriebs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Gegen das Urteil "Trivialautorin", das die Literaturgeschichte scheinbar unwiderruflich über Marlitt verhängt hat, legt Erika Dingeldey Revision ein. Eine neue Beweisaufnahme, die sie vorsichtig "Versuch über E. Marlitt" nennt, kann - so viel sei vorweggenommen - tatsächlich einige, wenn auch nicht alle Indizien, die zu dem tradierten, bisher unangefochtenen Verdikt der Trivialität geführt haben, entschärfen oder sogar widerlegen. Wichtig ist der Ansatz ihres neuen Verfahrens: Es geht Dingeldey nicht darum, Marlitt einen ebenbürtigen Platz neben den "großen" literarischen Zeitgenossen, wie Fontane, Keller (der sich als einer der wenigen Zeitgenossen auffallend positiv über ihr Werk äußerte) oder Raabe, einzuräumen. Auch geht es ihr nicht um eine künstlerisch-ästhetische Rehabilitierung. Selbst Dingeldey, die bereits in der Einleitung umstandslos ihre große Sympathie zu Marlitt bekundet und sich als begeisterte und über Jahrzehnte treue Leserin offenbart, räumt ein, dass es an Sprache und Stil einiges auszusetzen gibt. Aber: Die wesentlichen Kriterien, die "Trivialliteratur" aus literaturtheoretischer Perspektive erkennbar machen - stereotype Personendarstellung, eine unreflektierte und stark affirmative Schilderung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie eine eklatant apolitische Haltung, die jede Art von kritischer Stellungnahme vermeidet - treffen, so Dingeldeys These, auf Marlitts Romane nicht zu.

Um das kritische (Erzähler-)Potenzial Marlitts offenzulegen, stellt Dingeldey soziologisch und gesellschaftspolitisch ausgerichtete Fragen und konzentriert sich in der inhaltlichen Analyse des Gesamtwerks, das im wesentlichen neun umfangreiche, zwischen 1866 und 1885 entstandene Romane umfasst, auf Marlitts Schilderungen von Milieu und Gesellschaft, vor allem aber auf die Figurendarstellung und -rede sowie auf die Nuancen in der Beschreibung von Charakteren, denen in allen Romanen jeweils die verschiedenen zeitgenössischen politischen Strömungen beziehungsweise die gesellschaftlichen Formen bürgerlichen (und adeligen) Lebens zugeordnet werden. Tatsächlich kann Dingeldey Marlitt durch eine gründliche und unvoreingenommene Lektüre vor dem Hintergrund der historischen Situation als eine Art Chronistin ihrer Zeit würdigen und zeigen, dass sie die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Entwicklungen im "bürgerlichen Zeitalter" kritisch und durchaus unabhängig von konventionellen Maßstäben hinterfragt. Neben den für damalige Unterhaltungsliteratur obligatorischen Liebesgeschichten, Intrigen und Verwicklungen und dem unverzichtbaren Happy End wendet sich Marlitt in allen ihren Romanen auch gesellschaftspolitischen Themen zu. Hürden und Hindernisse, die sich Liebesglück, offenem Miteinander und einem erfüllten, selbstbestimmten Leben der Protagonisten entgegenstellen, sind stets durch aktuelle, brisante gesellschaftliche Um- und Missstände verursacht: die anachronistischen Standesvorurteile und der gesellschaftlichen Dünkel des Adels gegenüber bürgerlichen Werten und Welten, die gesellschaftliche Vormachtstellung einer institutionell erstarrten Kirche, gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten, die Auswüchse eines politisch verdrossenen, desorientierten und in den Gründerjahren ausschließlich am wirtschaftlichen Gewinn interessierten (Groß-)Bürgertums, die zunehmende Intoleranz gegenüber gesellschaftlichen und künstlerischen Innovationen und nicht zuletzt die traditionelle familiäre Rollenaufteilung, die der Frau das Recht auf Mitsprache, Selbstbestimmung, vor allem aber das Recht auf Bildung abspricht. Gerade ihr Veto gegen die herkömmliche gesellschaftliche Stellung der Frau macht Marlitt zu einer Pionierin in der Frauenemanzipation, freilich ohne die spitze Feder etwa einer Hedwig Dohm.

Nicht affirmativ, sondern nonkonformistisch, keineswegs aber revolutionär oder gar agigatorisch-kämpferisch sind Marlitts Ansichten, wie Dingeldey ausdrücklich betont. Die Analysen zeigen, dass ihre von aufklärerisch-liberalen Idealen, christlichen Werten und bürgerlichen Lebensformen geprägte Weltanschauung Stellung gegen Ungerechtigkeit, Bigotterie und Intoleranz bezieht und dabei auf moralinsaure Belehrungen und Zurechtweisungen ganz verzichtet und darüber hinaus auch Meinungen und Ansichten vertritt und in ihren Figuren zu äußern wagt, die jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen liegen. Diese geistige Unabhängigkeit Marlitts und ihr kritischer Blick auf gesellschaftliche Verlogenheiten ändern jedoch nichts daran - und diesen Vorwurf kann Dingeldey trotz ihrer Analysen von Dramaturgie und Erzähltechnik nicht entkräften -, dass die poetische Kraft Marlitts nicht ausreichte, um Form und Inhalt in Einklang zu bringen. Am allzu pathetischen oder vorsichtiger formuliert, blumig-metaphorischen, von keinen erzählerischen Kunstgriffen gebrochenen Stil, scheiden sich bis heute die Geister. Trotzdem: Dingeldey zeigt, wie lehrreich es sein kann, tradierte literarhistorische Wertungen zu hinterfragen und auch die abseits von hoher Literatur liegenden Werke unvoreingenommenen, gründlichen Analysen zu unterziehen, wenn sie - wie Marlitts Werk - Abbilder oder zumindest Reflexe (gesellschafts)historischer Entwicklungen enthalten.

Das sachliche, abwägende, von überzeugenden Argumenten gestützte Plädoyer Dingeldeys in Sachen Marlitt kann das Urteil der inhaltlichen Trivialität aufheben. Die offenkundigen Schwächen in Stil und Darstellung von Marlitts Werk zu beschönigen oder gar zu widerlegen, lag nicht in der Absicht und im Ziel der Studie. Das benennt in drei Worten bereits der Titel der Arbeit: "Luftzug hinter Samtportieren" - besser und kürzer lässt sich Marlitts (bürgerliches) Romanprogramm im späten 19. Jahrhundert nicht zusammenfassen.


Kein Bild

Erika Dingeldey: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. Marlitt.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.
209 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3895285803

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch