Oder lieber gleich die Gesamtausgabe?

Günter Figal gibt ein "Heidegger Lesebuch" heraus

Von Stefan DegenkolbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Degenkolbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzwischen sind im Klostermann Verlag siebzig Bände der "Ausgabe letzter Hand" der Werke Martin Heideggers erschienen. Durchschnittlich werden pro Jahr zwei weitere veröffentlicht, so dass in ungefähr fünfzehn Jahren die von Heidegger auf 102 Bände angelegte Ausgabe vollständig sein dürfte. Dass es sich bei dieser 1975 begonnenen Arbeit um ein philologisch von vielen Forschern als höchst zweifelhaft bewertetes Projekt handelt, ist bekannt. Ob und wann aber eine historisch-kritische Edition zur Verfügung stehen wird, bleibt ungewiss.

Den echten Heideggerianer wird die Idee einer historisch-kritischen Fassung ohnehin nicht sonderlich zusagen. Sie haben ein Verhältnis zu Martin Heidegger, das so innig ist, dass ihnen nichts lieber sein kann, als eine Ausgabe "letzter Hand". Sicher, im strengen Sinne können als solche nur ganz wenige Bände der Gesamtausgabe gelten. Doch hat Heidegger zu Lebzeiten dafür Sorge getragen, dass die Herausgabe der jeweiligen Bände in den richtigen Händen liegt. Wo Martin Heidegger dies nicht mehr selbst regeln konnte, kümmert sich sein Sohn Hermann Heidegger darum, dass alles im Sinne des Vaters vollendet werde. Und dass der Verlag nun ein "Heidegger Lesebuch" herausgeben lässt, dessen primären Sinn in der Werbung für die Gesamtausgabe zu liegen scheint, kann diesem Projekt ja nur förderlich sein.

Günter Figal hat das "Heidegger Lesebuch" zusammengestellt, das Texte aus nahezu der gesamten Breite der Werksausgabe umfasst. Mit Figal hat der Verlag einen Herausgeber gewählt, der auf der ganzen Linie von seinem Unternehmen wie auch von dem "Unternehmen Gesamtausgabe" überzeugt ist. Für ihn ist Martin Heidegger der Denker, der "die Philosophie als Ganze neu durchdacht" habe. So sei er "für das zwanzigste und beginnende einundzwanzigste Jahrhundert geworden, was Hegel für das neunzehnte war."

Ein philosophisches Arbeiten scheint für Figal ohne Heidegger überhaupt nicht mehr denkbar zu sein: "Inzwischen ist die Beschäftigung mit Heidegger eine notwendige Bedingung für das Verständnis der Philosophie. Sein Denken gibt Möglichkeiten für jede philosophische Arbeit vor, die sich aus der Tradition und im reflektierenden Bezug auf sie versteht." Heideggers Denken erscheint damit als Quintessenz der Philosophie. Und nur was durch Heidegger hindurchgegangen ist, scheint für Figal überhaupt den Namen Philosophie im strengen Sinne zu verdienen. Deshalb misst er wohl auch der Gesamtausgabe eine so überragende Bedeutung bei. Sie erst mache Heideggers Denken der Forschung wirklich zugänglich, sei der schlechthin einzige Weg zu Heideggers Denken. Forschungsarbeiten, die vor dem Erscheinen des ersten Bandes 1975 entstanden seien, hätten deshalb in den meisten Fällen nur noch historischen Wert. Der Gedanke, dass manche ältere Arbeit, die sich mit Heidegger befasst hat, dies nicht primär taten, um dessen Denken zu erschließen, sondern weil sie sich mit philosophischen Problemen beschäftigen, an denen auch Heidegger gearbeitet hat, scheint Figal gar nicht zu kommen. Es entsteht der überaus unangenehme Eindruck, als sei er der Meinung, dass, wo es ernstlich um Philosophie gehe, es notwendig um Heidegger gehen müsse. Und wer sich damit befassen wolle, der sei auf die Gesamtausgabe unvermeidlich angewiesen: "Insofern kommt niemand, der es mit Heideggers Denken ernst meint, an einem gründlichen Studium der Gesamtausgabe vorbei. Es gibt keinen kurzen Weg, auf dem sich das heideggersche Denken hinreichend erschlösse."

Die Texte, die im Lesebuch zusammengestellt sind, sollen Ausgangspunkte zu den Denkwegen Heideggers sein, denen der Leser in verschiedener Richtung folgen könne. Diesem Ziel entsprechend, ist die Auswahl der Texte gut gelungen. Figal hat es geschafft, mit zweiundzwanzig, überwiegend recht kurzen Beiträgen einen erstaunlich weitgefassten Überblick über Heideggers Werk zu geben, sowohl was seine Entwicklung, als auch was seine Themen angeht. Zeitlich sind Texte aus den Jahren vor "Sein und Zeit", aus der Zeit der so genannten Kehre, den 30er-Jahren und aus dem Spätwerk vertreten. Thematisch reicht die Auswahl von Aufsätzen zur Seinsfrage über Sprache und Kunst bis hin zu Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger und Paul Cezanne. Abgerundet wird die Sammlung durch die Rektoratsrede von 1933 und das in einem Anhang beigegebene "Spiegel"-Gespräch von 1966. Alle Texte werden in der von Günter Figal verfassten, angenehm knapp gehaltenen Einleitung kurz erläutert. Dabei bleibt der Herausgeber allerdings so sehr dem heideggerschen Jargon verhaftet, dass nicht ganz klar wird, an welchen Leser sich diese Erklärungen richten. Denn wer sich schon mit Heidegger befasst, der wird nicht auf diese Lektürehilfe angewiesen sein und ohnehin keinen Kunden für ein "Lesebuch" abgeben - dafür hat er schon viel zu viele Bände der Gesamtausgabe im Bücherregal stehen. Wem dagegen Heideggers Philosophie noch fremd ist, dem werden Günter Figals Erörterungen kaum weiterhelfen.

Auch Figals Kommentar zur "Rektoratsrede" ist nicht gerade erhellend. Einerseits betont er, dass es nicht zu leugnen sei, dass Heidegger "die nationalsozialistische Machtübernahme als epochale geschichtliche Möglichkeit" sah. Andererseits legt er besonderes Gewicht auf die Feststellung, dass in der Ansprache weder von der Partei noch vom Führer die Rede sei. So beinhalte die Vorlesung eine Abwehr gegen die ideologische Vereinnahmung der Universität durch den Nationalsozialismus und versuche, ihre die Entwicklung auf den "Aufbruch der griechischen Philosophie" zu verpflichten. Unverständlich und unerklärt bleibt einmal mehr, wie es Heidegger möglich war, im Nationalsozialismus den deutschen Aufbruch zum eigentlichen Denken zu sehen und sich gleichzeitig gegen die Vereinnahmung durch dessen Ideologie zu wehren.

Streng genommen bleibt das "Heidegger Lesebuch" eine Sache, die mit sich selbst im Widerspruch steht. Es soll auf die Denkwege Heideggers führen, und es kann doch nur, eben weil es ein Lesebuch ist, aus dem Kontext gerissene kleine Ausschnitte darstellen. Damit verhält es sich zum Werk Heideggers wie eine Postkartensammlung zu einem echten Wanderurlaub im Schwarzwald. Ob sich Leser damit nun auf den heideggerschen Wegen auf Wanderschaft begeben, wird sich zeigen. Sicher aber wird das Buch in den kommenden Jahren auf den Literaturlisten der Heidegger-Einführungsseminare seinen festen Platz finden und so zielgruppennah für die Auseinandersetzung mit der "Gesamtausgabe letzter Hand" werben.


Titelbild

Günter Figal (Hg.): Heidegger Lesebuch.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2006.
400 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-10: 3465040112
ISBN-13: 9783465040118

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