Die argentinischen Lockungen

Ricardo Piglias Begegnungen mit fremden und vertrauten Stimmen der argentinischen Literatur

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, bei deren Lektüre sich der Leser wie Odysseus auf eine lange Wanderschaft begibt. Zwar möchte er seine Neugierde stillen und die spannende Lektüre möglichst schnell abschließen, verweilt aber zugleich gerne an interessanten Stellen, was ihn - zumal in Publikationen, deren offener essayistischer Stil zum Weiterdenken anregt - schnell vom Ziel abbringen kann. So wie die ungeplanten Abstecher zur Zauberin Kirke und der Nymphe Kalypso Odysseus' Rückkehr zu Penelope verzögerten.

Das gleiche Phänomen stellt sich - wenngleich im positiven Sinne - bei der Lektüre des Buches "Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires" des argentinischen Schriftstellers Ricardo Piglia ein, der sich selber allzu gerne der Odysseus-Metapher bedient. Auf dieser Reise durch die literarische Landschaft Argentiniens nehmen die Lockungen der Sirenen mit Schriftstellpersönlichkeiten wie Franz Kafka, James Joyce, Robert Musil oder Ernest Hemingway Gestalt an, deren Schaffen Piglia in den argentinischen Kontext stellt.

Hält man sich bei dieser Mischung aus Tagebucheintragungen, Skizzen, Erinnerungen und Essays die Ohren nicht zu, wird man hellhörig auf die Besonderheiten der argentinischen Literatur und seiner Stellung innerhalb der europäischen Tradition. Inmitten einflussreicher Übersetzungen ausländischer Werke hebt Ricardo Piglia den "natürlichen" Sprachrhythmus des nach Argentinien emigrierten Polen Witold Gombrowicz hervor ("Der polnische Roman"). Eine solche Beziehung der Distanz und Fremdheit zur Muttersprache, die in Gombrowiczs Übersetzungen zwangsläufig entsteht, stellt Piglia ebenfalls in der einheimischen Literatur von Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und dem jung verstorbenen Roberto Arlt fest. Neu erscheinen in diesem Licht die Romane Gombrowiczs, die, wenn man Piglia glauben soll, viel näher der argentinischen als der polnischen Tradition, wie es Gombrowicz häufig bescheinigt wird, angesiedelt sind.

Stilistische Vergleiche und Analysen dieser Art kommen im Buch häufiger vor und helfen dem Autor, einen umfangreichen Überblick über die moderne Literaturszene Argentiniens zu geben. Aber man kann dem Band, der sich, wie es im Epilog heißt, aus unterschiedlich datierten "verlorenen Seiten im Tagebuch eines Schriftstellers" zusammensetzt, auch eine erzählerisch-kontemplative Note abgewinnen. Dazu zählt "Hotel Almagro", die fast unheimliche Geschichte über Liebesbriefe, die Piglia in zwei Hotelzimmern an zwei unterschiedlichen Orten findet, zwischen denen ihm zwei völlig fremde Menschen pendeln. "Es ist nichts Seltsames dabei, einem Unbekannten zweimal in zwei Städten zu begegnen; seltsamer erscheint es, an zwei unterschiedlichen Orten zwei Briefe von zwei Personen zu finden, die miteinander verbunden, einem selbst jedoch unbekannt sind."

Vorherrschend essayistisch sind dagegen Piglias Betrachtungen zu Stil und Form der Erzählung in "Thesen über die Erzählung" mit Beispielen zu Tschechow, Hemingway, Kafka und Poe, zum psychoanalytischen Ursprung des Joyce'schen Erzählmodus' in "Finnegans Wake" ("Die tragischen Subjekte") oder zum Problem der künstlichen Erinnerung der zeitgenössischen Prosa im Schaffen Borges' in "Borges' letzte Erzählung".

Neben der inhaltlich bunten Mischung lassen diese ersten "Versuche und Ansätze zu einer künftigen Autobiographie", wie sie der Autor im Nachwort beschreibt, auch sprachlich nichts zu wünschen übrig. Die Autorenporträts pflanzt Piglia in malerische Spaziergänge durch die Stadt Buenos Aires mit ihrer lebhaften Mischung aus Straßenlärm und Staub hinein. Diese poetischen, anschaulichen Beschreibungen verleihen den Schriftstellerfiguren Macedonio oder Arlt allein wegen ihres antizipierend unzeitgemäßen Schaffens etwas Heldenhaftes, da es sie zeitlebens zum Unverständnis und Alleinsein verurteilte.

Mag beim Lesen einiger Kapitel über Macedonio, Arlt oder Borges ein Déjà-vu-Erlebnis aufkommen - über dieses Autorentrio ist in immer neuen Facetten auch etwas über Piglias Erzählprosa zu erfahren. Zum Beispiel der Text "Die Tonbandfrau", dessen Spur zu einem der Romane des Autors führt. "Dieses Tonbandgerät und die Stimme einer Frau, die glaubt, tot zu sein, und am Eingang des Boxverbandes in der Calle Castro Barros Veilchen verkauft, waren für mich das Urbild der Macedonio-Maschine in meinem Roman ,La ciudad ausente': die verlorene Stimme einer Frau, mit der sich Macedonio in der Einsamkeit eines Hotelzimmers unterhält."


Titelbild

Ricardo Piglia: Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Berenberg Verlag, Berlin 2007.
96 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834184

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