Sinn und Wahnsinn

Die Aufklärung in neu[e]n Ansichten

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Promies versammelt in seinem Buch "Reisen in Zellen und durch den Kopf: Ansichten von der Aufklärung" neun Essays, neun aussagekräftige Bilder, über altbekannte und gute Freunde wie Lichtenberg und Rousseau, die uns gleichsam in die "aufklärerische" Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einführen. Promies führt allerlei kuriose Gestalten und deren bizarre Ansichten über Mensch und die Welt vor und zeigt dem Leser auf, wie dicht Wahn und Sinn am Feuer der Aufklärung zusammenstehen. So macht er uns zum Beispiel bekannt mit dem an Schizophrenie leidenden Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt, der sein eigenes Konterfei - durch Grimassen verzerrt - dutzende Male in Büsten darstellt, und dabei von sich selber sagt, er sei getrieben von "der Vollkommenheit in der Proportion". Dies ist, wie Promies erklärt, "die absurda tragica des Rationalismus, dass ihm, ehe er seine Vorstellung von einer in Selbstveredelung harmonisierten Menschheit aus der zweifellos schönen Idee in die befriedigende Tat umsetzen konnte, die Aufgabe gestellt war, unschöne Realität - verkehrte Welt, disproportionierte Menschheit - durch karrikierende Nachzeichnung für ewige Zeiten verächtlich, unmöglich zu machen". So bringt jedes Licht seinen Schatten selbst hervor.

Exemplarisch soll nun ein Essay herausgegriffen werden, der ebenfalls den Titel des Buches trägt: "Reisen in Zellen und durch den Kopf". Hier lernen wir den englischen Adligen John Howard (1726 - 1790) kennen. Seine Berühmtheit erlangte er durch zahlreiche Reisen besonderer Art: Er "besah nicht Sehenswürdigkeiten, sondern sozusagen -unwürdigkeiten", das heißt, er reiste durch die meisten europäischen Länder, um sich Gefängnisse anzusehen, statistisch zu erfassen und ferner auch allgemeine Theorien über diese Zuchthäuser anzufertigen. So entwickelte Howard verschiedene Maßnahmen, um ein Idealgefängnis zu konzipieren: Ein Vorschlag war es zum Beispiel, den Gefangenen ein metallenes Halsband umzulegen, das ohne fremde Hilfe nicht abgenommen werden konnte und so als eine Art Brandmal funktionierte. Ferner erachtete Howard die absolute Isolierung der Gefangenen von der Gesellschaft und voneinander für günstig, um ein Reuebewusstsein zu erwirken: Die Gefängniszelle wird zur Klosterzelle umgedeutet.

Um diesen Effekt der Isolierung noch zu verstärken, hielt Howard es auch für richtig, die Fenster so hoch anzubringen, dass genug frische Luft zwar herein, kein Blick aber hinaus dringen konnte. Promies bemerkt, dass Howard von den Zeitgenossen keinesfalls als grausam, sondern vielmehr als Reformer des Gefängniswesens und als "Menschenfreund" angesehen wurde, weil er sich eben auch für eine Verbesserung der Hygiene und Ernährung einsetzte.

Dass er diese Maßnahmen wirklich für erzieherisch wertvoll erachtete, zeigt der Umgang mit seinem einzigen Sohn Jack, von dem er absoluten Gehorsam forderte. So wurde der Junge von seinem Vater im Alter von drei Jahren nachts stundenlang in einer Gartenemeritage eingeschlossen, wahrscheinlich in Anlehnung an eine in Deutschland praktizierte Maßnahme, eigensinnige Kinder für eine Weile ins Gefängnis einsperren zu lassen. Diese Gedanken gipfelten in Jean Pauls "Unterirdischem Pädagogikum", das der Platons-Höhle nachempfunden ist, in dem Kinder fern der Welt und der Menschen erzogen werden könnten, ohne von den Schönheiten der Welt abgestumpft zu werden.

Vorrangig ging es wohl nur darum, den Eigensinn des Kindes zu zerstören. Geglückt war für Howard die Erziehung dann, wenn die Eingliederung in die - scheinbar - aufgeklärte Gesellschaft erfolgt war. Die Folge: Jack wurde wahnsinnig und starb in einem "lunatic asylum", einer Irrenanstalt.

Dilettanten versuchten sich damals also als Pädagogen - mit Kindern als Versuchskaninchen. Eine Frage bleibt jedoch offen: Wenn wir heute durch unsere Zellen reisen - und damit sind zum Beispiel auch die Schulen gemeint -, sind wir dann wirklich wesentlich weiter?

Titelbild

Wolfgang Promies: Reisen in Zellen und durch den Kopf. Ansichten von der Aufklärung.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 1997.
261 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 393140207X

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