Der anwesende Abwesende

Cornelia Staudacher porträtiert zwölf vaterlose Töchter

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nachkriegszeit kennt kein Ende, obwohl sie mehrfach schon überwunden schien, zuerst in den 1960er-Jahren, zuletzt in den Neunzigern. In den Biografien von Zeitgenossen dauert sie an, selbst noch in der Generation, die demnächst in Rente geht und in den Jahren um das Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Nicht wenige wuchsen ohne ihren Vater auf, weil der auf den Schlachtfeldern oder in Gefangenschaft umgekommen war oder vermisst wurde.

Die Publizistin Cornelia Staudacher hat die Folgen dieser asymetrischen Familiensituation bei Frauen untersucht und ein Profil der "vaterlosen Tochter" erstellt - so lautet zumindest der Anspruch ihres Buches, das aus den Gesprächsprotokollen mit zwölf Betroffenen besteht. Die Interviewform ist dabei nicht beibehalten worden, sie klingt allenfalls in wörtlichen Zitaten an. Der Duktus ist vielmehr geprägt von der auktorialen Erzählerin, die im Plauderton und indirekter Rede Einblicke in die Erinnerungen, Lebensweisen und Traumata von Personen gewährt, die der Leser nur als "Victoria W." oder "Sigi A." kennenlernt - als bedürften die vom Schicksal Geschlagenen der schützenden Anonymität einer Christiane F.

Die kurzen Bio- und Psychogramme bilden insgesamt ein Potpourri von Lebensläufen, aus dem sich mühsam einige gemeinsame Merkmale gewinnen lassen. So hat die Abwesenheit des Vaters bei allen gerade den Eindruck einer ganz besonders intensiven Anwesenheit hervorgerufen. Der Nicht-Zurückgekehrte wurde - explizit oder unbewusst - zur nicht alternden Autorität, zu einem unhinterfragbaren Ideal, zur gespenstischen Instanz. Die Bindung der Töchter an ihre Mutter wurde darüber umso fester, aber auch belasteter und - vor allem bei fortschreitendem Alter - belastender. Was Cornelia Staudacher aus ihren Begegnungen berichtet, ist vom Gesamteindruck her frappierend. Bis ins Intimleben scheint sich die Vaterlosigkeit ausgewirkt zu haben; die geschilderten Verhältnisse zu Männern etwa weisen kaum Beispiele gelingender, anhaltender Zweisamkeit auf.

Solche anekdotenhaften Impressionen haben den Nachteil, dass sie zu interessant und heikel sind, um sie der Belanglosigkeit und Zufälligkeit einer Erzählsammlung zu überlassen. Weder die Repräsentativität ist hier geklärt noch überhaupt die Frage nach der psychologischen Kausalität der vorgestellten Zusammenhänge zwischen Familiensituation und Vita. Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, dass es zwingende Gründe dafür geben soll, als vaterlose Tochter "Schreibkurse mit österreichischen Studenten auf einer ionischen Insel" oder Performances mit "Pappapier" genanntem Arbeitsmaterial durchführen zu müssen.

Dokumentarische Literatur, zu der Staudachers Band zählt, hat den Anspruch, durch Subjektivität und Unmittelbarkeit authentischer zu sein als wissenschaftliche Analysen. Vom spezifischen Erkenntniswert wird dabei beharrlich geschwiegen. Erika Runge hat vor Jahrzehnten (und bevor sie sinnvollerweise Psychotherapeutin geworden ist) die berühmt-berüchtigten "Bottroper Protokolle" als Originalton-Beiträge zur Arbeiterliteratur veröffentlicht. Damals stand das Genre im Kontext des linken Aufbegehrens, und wenn man Cornelia Staudachers Vorwort liest, dann gewinnt man den Eindruck, sie fühle sich dem irgendwie verpflichtet. Jedenfalls legt sie eine ordentliche Abrechnung mit der prüden Nachkriegs-Bundesrepublik vor. Unklar bleibt, worin genau der logische Konnex zu den gnadenlos naiven Kurzporträts bestehen soll. Das Lebensthema von "Sigi A.", "Viktoria W." und den anderen ist wahrlich bewegend genug und hätte neben der verdienstvollen Aufmerksamkeitsarbeit des Buches eine ernsthaftere Auseinandersetzung durchaus verdient.


Titelbild

Cornelia Staudacher: Vaterlose Töchter. Kriegskinder zwischen Freiheit und Anpassung Porträts.
Arche Verlag, Hamburg 2006.
183 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3716023531

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