Operation am eigenen Leib

Über die kritische Ausgabe von Peter Weiss' "Kopenhagener Journal"

Von Florian RadvanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Radvan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp 25 Jahre nach Peter Weiss' Tod ist erstmals der gesamte Text des "Kopenhagener Journals" veröffentlicht worden - ein Tagebuch, dessen Eintragungen zwischen Juli 1960 und November 1961 datieren. Schonungslos gegenüber sich selbst berichtet Weiss darin von einer künstlerischen wie persönlichen Umbruchsituation, von der er zeitweilig nicht zu sagen vermochte, ob sie "einem Übergang oder einem Untergang" näher kam.

Zu Beginn der 1960er-Jahre arbeitete Weiss letztmalig als Filmemacher. Mit der Bekanntschaft zu Siegfried Unseld und der Veröffentlichung erster Texte im Suhrkamp Verlag vollzog sich zur selben Zeit die erfolgreiche Initiation im Literaturbetrieb. Auch politische Überzeugungen, von Weiss später entschieden und unmissverständlich vorgetragen, wurden im Tagebuch vorformuliert. Dazu zählt etwa seine Kritik am System kapitalistischer Gewinnmaximierung und damit an jenen Menschen, die - indem sie sich selbst betrögen und ausbeuteten - an den "Idealen des Besitzenwollens" festhielten. Auch seine Auseinandersetzung mit einer neuen, vom Kommunismus geprägten Gesellschaftsordnung ist bereits angedeutet, die allerdings - anders als das einige Jahre später uraufgeführte Stück "Viet Nam Diskurs" oder die Romantrilogie "Die Ästhetik des Widerstands" - noch nicht auf "politischen und nationalökonomischen Kenntnissen" und Recherchen beruhte. Weiss' Privatleben war zu dieser Zeit von den Wirrnissen der Beziehung zu Gunilla Palmstierna geprägt sowie von dem Versuch, durch Affären mit anderen Frauen mit einer als drangvoll erlebten Sexualität umzugehen.

Dabei ist das "Kopenhagener Journal" mehr als das Dokument einer Schaffens- und Lebenskrise, wie verschiedene Kritiker in den Feuilletons zu Recht vermerkt haben. Schon die bloße Tatsache, dass Weiss Tagebuch geführt hat, zeigt an, dass neben der Krise stets auch der Wunsch ihrer Bewältigung gestanden haben muss. So ermöglicht der Text faszinierende Einblicke in den Entstehungsprozess der beiden Filme "Hinter den Fassaden" (1960) und "Eine Schwedin in Paris" (1960/61), zu denen Weiss das Skript schrieb und Regie führte. Ferner bot ihm das Journal Raum für Notizen zu eigenen Leseeindrücken, vornehmlich zu anderen Tagebüchern von so unterschiedlichen Autoren wie Bertolt Brecht und Friedrich Hebbel, aber auch Henry Miller oder Jean Genet. Einen bedeutenden Teil nehmen poetologische Kommentare ein. Sie befassen sich im Wesentlichen mit der Überarbeitung der autobiografisch geprägten Erzählung "Abschied von den Eltern" (1961). In ihnen schildert Weiss, wie es ihm durch die Streichung eines Handlungsstranges (der die Beziehung zu Gunilla Palmstierna thematisierte) und durch rigide sprachliche Korrekturen gelang, "die letzten Weichheiten, Halbheiten, Undeutlichkeiten darinnen auszumerzen und aus dem ganzen den hartgepressten Block zu machen, der daraus werden muss". Und schließlich enthält das Journal zahlreiche luzide Beobachtungen zur Praxis der Psychoanalyse und zur Person des Psychoanalytikers.

Gerade indem Weiss Phasen der psychischen Zerrüttung, Antriebslosigkeit, Frustration, totalen Entscheidungslosigkeit und Verwahrlosung beschreibt, zeigt er, wie die Kunst dem scheinbar zerfallenden Dasein wieder Konturen geben kann und dass sein "prüfender Blick für die Form und die Kontinuität der Arbeit intakt" blieb. An zahlreichen Stellen vermisst Weiss so einerseits die Möglichkeiten, die die Kunst zur Darstellung der Welt bietet - beispielsweise: "Eine Gefühlslage schildern, die aus stark sentimentalen Einzelheiten besteht, ohne das die Schilderung selbst sentimental wird." Andererseits wird der Raum ausgelotet, den das Ich in der und für die Kunst einnehmen soll: "Habe ich nichts zu sagen? Und verstecke ich mich deshalb hinter der kunstvoll verschlungnen Technik?"

Leitmotivisch durchzogen wird das "Kopenhagener Journal" von der Frage nach den Voraussetzungen, aber auch nach der Intention und Praxis des Tagebuchschreibens. Zunächst sei die Arbeit an einem solchen Diarium eine "Konzentrationsübung", deren größte Schwierigkeit Weiss darin sieht, "eine Synthese zu finden zwischen den intimsten, subjektivsten Reflexionen und dem ständigen Bedürfnis nach Objektivierung". Darüber hinaus müsse man sich - als ein Schreibender, der sich im Tagebuch auf Forschungsreise in das eigene Innere begebe - "ungeheuer ernst nehmen und fest an sich glauben". Für Weiss schließt dies eine Selbstzensur aus, insbesondere im Bereich der Sexualität. Dass er folglich von intimen Details, darunter Inzestfantasien, berichtet, scheint bei seiner Konzeption des Tagebuches unabdingbar.

Relativiert wird sein Wille zur "völligen Genauigkeit in der Wiedergabe von Erlebnissen, Empfindungen, Reflexionen" dadurch, dass Weiss, wie alle Schreibenden, nur Einzelheiten und diese immer nur aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung aufzeichnen kann. So beklagt er: "Vermutende Schreibweise anstatt begründende Schreibweise." Dass Weiss sein Tagebuch nicht als Abraumhalde, sondern konsequent als Instrument zur Selbstreflexion und -vergewisserung nutzte, wird daran deutlich, dass er Querverweise zu anderen Einträgen herstellt und diese relativiert, kommentiert, erweitert. So bemerkt er zum Beispiel zu einer Passage, in der er über den wahnhaften Zerstörungsdrang des Zweiten Weltkrieges nachdenkt: "Dieser letzte Abschnitt besteht nur aus leeren Worten. Er enthält die übliche dahingeredete Gefühlsduselei." In einem der letzten Einträge vermutet Weiss schließlich, dass seine autobiografischen Notizen - neben denen zu "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt" (1962) wohl auch die des Tagebuches - seine psychische wie körperliche Instabilität noch verstärkt haben: Die "Aufzeichnungen, mit denen ich mich während der letzten Monate beschäftige, saugen mich so tief hinein in Dunkles und Gefahrvolles, dass ich ermattet, erloschen bin abends...".

An zentraler Stelle des "Kopenhagener Journals" skizziert Weiss eine "Topographie menschlichen Verbautseins", indem er Beobachtungen zusammenstellt, die er in Hochhaussiedlungen am Rande von Kopenhagen gemacht hat. Mit dem Blick des Filmemachers schildert er die Lebensumstände in räumlicher Bedrängtheit - "Personen, in Schablonen gepresst" -, charakterisiert die Atmosphäre kleinbürgerlichen Lebens- und Kunstkitsches, berichtet von zum Teil unverhohlener Gewalt, unter der er Hilflosigkeit, Verbrämung und Selbstbetrug erkennt und in der er eine "geistige Erloschenheit" diagnostiziert. Hier offenbart sich der geschärfte Blick des "ausgestossenen Bürgersohns", der allerdings nicht frei ist von dem Gefühl, in Lebensführung und ästhetischem Empfinden weit überlegen zu sein.

Auf stilistischer Ebene unterscheiden sich die Einträge erheblich: Einerseits finden sich - vor allem in den frühen Notizen - stakkatohafte Kurzsätze, die ohne Prädikat assoziationsartig aneinandergefügt sind: "Unlust beim Gedanken an die völlig ungelösten Wohnungsprobleme. Ein Haus. Eine Stadt. Ein Wohnort. Vielleicht in der vorigen Nacht ein Kind entstanden. Ambivalente Einstellung zur Möglichkeit eines neuen Kindes. Dumpfer Tag. Kein einziger klarer Gedanke. Reminiszenzen vom Traum." Andererseits ist das Tagebuch vielfach geprägt durch elaborierte, hypotaktische Satzkonstruktionen in ausführlicheren narrativen Zusammenhängen. Auch die Länge der Einträge variiert: Neben Kurzvermerken, die Weiss als Ideenspeicher (beispielsweise für Titelvorschläge) nutzt oder in denen er Gefühlszustände notiert, finden sich essayhafte Abhandlungen, darunter eine Vorfassung des später als "Der große Traum des Briefträgers Cheval" publizierten Textes.

Die kritische Ausgabe des "Kopenhagener Journals" ist - in einer gelungenen Konzentration auf das Wesentliche - bebildert, etwa mit einer Manuskriptseite, Stills aus den Filmen sowie einigen Personenaufnahmen. Erschlossen wird das Tagebuch durch ein sehr informatives Nachwort, das werkbiografische Zusammenhänge erläutert und den Text so auch für diejenigen zu einer fesselnden Lektüre werden lässt, die mit Weiss - seinen Filmen, seinen Texten, seinem Arbeitsstil, seinem Leben - zuvor wenig vertraut waren. Es erläutert insbesondere, warum das Tagebuch "ein ergreifendes Dokument dieses prekären Übergangs [ist] von einem aus allen Zusammenhängen herausgetretenen, nur sich selbst verpflichteten Künstler zu einem Schriftsteller, der die Bindungen an einen Verlag - und die damit verbundene Abhängigkeit vom Markt - zu ertragen und auszutarieren lernte". Dazu trägt auch der hervorragende Kommentar bei, der durch gut lesbare und verständliche Hintergrundinformationen zu Weiss und den anderen im Journal erwähnten Personen besticht.

Mit dem "Kopenhagener Journal" ist erstmals ein Prätext zu vielen anderen Texten von Weiss erschienen. Wie und mit welchen Veränderungen er Abschnitte daraus später weiterverwendet hat, ist en detail in den mit Akribie und Sorgfalt wiedergegebenen Varianten verzeichnet. Dadurch, dass die Herausgeber einzelne Verschreibungen korrigiert haben, ohne die für Weiss charakteristische Orthographie und Zeichensetzung einzuebnen, und insbesondere dadurch, dass längere Tilgungen des Autors im Anhang wiedergegeben werden, ist ein flüssiger Text entstanden. Dies alles lässt die kritische Ausgabe als ein Werk erscheinen, das die Wahrnehmung des Künstlers und des Menschen Peter Weiss entscheidend prägen wird.

Allerdings vermag auch der ausgezeichnete Apparat nicht alle blinden Flecken aufzulösen. Dass zu einzelnen Namen und Orten, von denen im Journal die Rede ist, der Vermerk "Nicht ermittelt" gegeben wird, lässt dem Tagebuch, das vom Autor selbst nie zur Veröffentlichung vorgesehen war, einen Rest seiner Privatheit.


Titelbild

Peter Weiss: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
206 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3835300717
ISBN-13: 9783835300712

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch