Kein Verstummen

Über die anspruchsvolle Hörbuch-Edition der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss

Von Michael HofmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Hofmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gut fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des dritten Bandes der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss hat sich die Welt verändert. Die Bedingungen einer Literatur, Ästhetik und Politik, die sich der Befreiung des Menschen aus Zuständen der Unterdrückung und Demütigung verschrieben haben, sind gänzlich andere geworden. Manche sind der unumstößlichen Überzeugung, die Zeiten des Engagements und der Verbindung von Kunst und politischer Befreiung seien ein für allemal vorbei.

Schwanengesängen dieser Art steht im Hinblick auf Peter Weiss' opus magnum freilich die Einsicht entgegen, dass sich der Widerstandsroman selbst schon der "einfachen Politisierung" (Martin Rector) vehement widersetzte, dass er das Scheitern der linken Politik des 20. Jahrhunderts schonungslos reflektierte und dass er der Kunst und der ästhetischen Erfahrung die Funktion zuwies, in Kontexten von Entfremdung und Unterdrückung den Gedanken an den Anspruch aller Menschen auf Selbstbestimmung und ein menschenwürdiges Leben aufrecht zu erhalten. Immerhin stellt sich die Frage, ob in Zeiten der Globalisierung, der Postmoderne und der Medienherrschaft Weiss' Roman überhaupt noch eine Aufmerksamkeit für sich beanspruchen kann, die über ein museales, historisierendes Interesse an den Irrungen und Wirrungen totalitärer Politik des 20. Jahrhunderts hinaus geht.

Skeptiker, die eine solche Frage bereits für anachronistisch halten, mögen überrascht sein von Symptomen eines wieder erwachenden Interesses am unzeitgemäßen Riesenwerk über den Widerstand der Ästhetik. Das Hörbuch, das mehr als zehn Stunden konzentrierter Beschäftigung mit einem schwierigen Text ermöglicht und auf einer akribischen Arbeit vor allem des Bearbeiters und Regisseurs Karl Bruckmaier basiert, ist natürlich nicht Ausdruck eines modischen Zeitgeistes, sondern verdankt sich der Energie und dem Engagement Einzelner. Auch ist die Bereitschaft der Redaktionen des Bayerischen und des Westdeutschen Rundfunks zu loben, das Projekt des Hörbuchs "Die Ästhetik des Widerstands" zu fördern und mit einer ganzen Reihe von Sendungen zu flankieren. Dennoch: Dieter Bohlen wird in seiner nächsten Casting-Show wohl kaum zur Lektüre des Romans aufrufen, und es wird ein begrenzter Kreis von Interessenten bleiben, der sich der nicht unerheblichen Mühe unterziehen und sich der Herausforderung dieser neuen Auseinandersetzung mit dem Text stellen wird.

Es ist aber gerade für die Weiss-Forschung von großem Interesse, die Voraussetzungen dieses neuen und durchaus eindrucksvollen Umgangs mit dem Text des Romans zu reflektieren und die Wandlungen der Aufnahmebedingungen von Weiss' Werk aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist zunächst zu betonen, dass ganz im Sinne der Rezeptionsästhetik von einer Veränderung des Horizonts der Leserinnen und Leser des Romans auszugehen ist, die aber im Sinne der Formel "neue Fragen an alte Texte" überraschend fruchtbare Konstellationen eröffnet. Im Booklet zum Hörbuch verweist der Dramaturg Herbert Kapfer, der das Projekt maßgeblich betreut hat, zu Recht darauf, dass sich die Konstellation des beginnenden 21. Jahrhunderts dahingehend geändert haben, dass der vermeintlich siegreiche Kapitalismus in der Form der Globalisierung den Weltlauf zu bestimmen scheint und dass die Ansprüche auf Selbstbestimmung und Menschlichkeit sich dezentral und polyphon artikulieren, ohne sich einer "großen Erzählung" wie derjenigen vom Kommunismus unterordnen zu lassen: "Fünfundzwanzig Jahre nach Abschluss des Romans erfolgt eine Wiederbesichtigung der ,Ästhetik des Widerstands' auf der Grundlage einer politisch und kulturell veränderten Weltkarte. Der Zusammenbruch des Ostblocks, das Scheitern des ,realsozialistischen' zweiten deutschen Staates, die Identitätssuche der politischen Linken in einer postmodernen Welt, die Mediatisierung und der Siegeszug des Neoliberalismus markieren die veränderten Voraussetzungen für eine Diskussion über den möglichen Stellenwert der ,Ästhetik des Widerstands'."

Vor diesem Hintergrund hören wir die Stimmen des Romans noch einmal - und jetzt sozusagen als real tönende Stimmen. Noch einmal können wir die Stimmen der Untergegangenen, Gescheiterten und Enttäuschten hören - aber auch die Stimme der trotzigen Hoffnung, die angesichts des Scheiterns aller politischen und ästhetischen Konzepte nach dem fragt, was in allen Kämpfen und Reflexionen das war, worum es eigentlich ging; das, was das Anliegen der politischen wie der ästhetischen Befreiungsversuche war. Und es war eine geniale Idee, aus der "Ästhetik des Widerstands" ein Hörbuch zu machen - nicht eigentlich ein Hörspiel, sondern eine Lesung mit verteilten Rollen, die durch sparsam eingesetzte Geräusche ergänzt wird: durch ein "Geräuschdesign, das mit den Steinen am Altar von Pergamon beginnt, sich ganz archaisch durch die akustische Repräsentation der vier Elemente Stein/Erde, Wasser, Feuer und Luft bewegt und sich schließlich im Hinrichtungsraum von Plötzensee findet, wo man den Regen fallen hört, während das Mikrophon an der Wand schabt, um ihr ein Geräusch, eine akustische Zeugenschaft zu entlocken" (Karl Bruckmaier).

Es sind Stimmen, nicht fertige Bilder, die den Diskurs des Romans bestimmen; und die den Roman kennzeichnenden, beherrschenden Bilder - die Bilder der Vorstellung, der Kunst, der Todesangst, der Trauer, des Wahns - werden durch die Gewalt der Sprache evoziert, weshalb die Hörfassung dem Roman viel eher entspricht als eine mögliche Verfilmung, die zumindest im Falle der Werke aus der bildenden Kunst eine Vereindeutigung der visuellen Bilder bewirken würde. Indem wir uns als Hörer der Evokationskraft der Sprache anvertrauen, folgen wir der Kraft des gesprochenen Wortes, das uns der Roman vermittelt hat - und so erscheint die hier geschaffene Umsetzung des Romans als eine geglückte intermediale Bearbeitung.

Zu loben ist das Konzept des Regisseurs, der den Text - trotz eines konsequenten Respekts vor der Leistung des Autors - energischen Streichungen unterzogen und den gesamten Roman in (mit einer Ausnahme eines etwas kürzeren Abschnittes) zwölf jeweils gut fünfzig Minuten lange Sequenzen aufgeteilt hat, die sich um ein Thema oder ein Bild ("der Altar", "Guernica", "Plötzensee") gruppieren. Der wichtigste Eingriff, den sich der Regisseur gegenüber der Textvorlage erlaubt hat, liegt in der Idee, "den scheinbaren ideologischen Monolithen aufzubrechen durch eine Aufspaltung des erzählendes Ichs in ein ,zeitgenössisches' und in ein schreibendes, reflektierendes Ich, deren Zweieinigkeit es ermöglicht, den Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten". Die selbstreflektorischen Potentiale des Romantextes werden durch diesen Kunstgriff aufgenommen und intensiviert, und es steht ein junges Ich neben einem älteren, was die Komplexität und Lebendigkeit des Textes erhöht.

Zu loben sind in diesem Zusammenhang auch die Sprecher, vor allem die beiden Erzähler Robert Stadlober und Peter Fricke, aber auch Rüdiger Vogler, der den Vater des Ich-Erzählers spricht, und die anderen, die unter anderem Hans Coppi, Heilmann, Ayschmann, Marcauer und Lotte Bischoff ihre Stimme leihen. Gegenüber dem Romantext unterstreichen die gesprochenen Texte des Hörbuchs die existentielle Dimension des Romans - denn es zeigt sich, dass die umfangreichen und oft quälenden politischen und ästhetischen Diskussionen des Textes mit den Menschen zu tun haben, die von ihnen beherrscht werden. Dass buchstäblich Stimmen um Artikulation ringen, sich nicht nur "Leiber aus dem Stein hoben", sondern Stimmen nach einem Ausdruck suchen und eigentlich diese Suche nach Artikulation und Ausdruck in einer Welt der Gleichmachung und Homogenisierung das Grundthema der "Ästhetik des Widerstands" ist.

Indem der Hörtext diese existentielle Dimension von Peter Weiss' Romanprojekt hervorhebt, befreit er den Roman auch aus der historisierenden Sterilität mancher literaturwissenschaftlicher Bemühung. Jenseits einer allzu simplen Aktualisierung politischer Anliegen und Neudefinition linker Feindbilder erinnert das Hörbuch im Stimmengewirr der medialen Überversorgung daran, was es bedeutet, sich in der Vielfalt der Sinnangebote und Seinsmodelle so zu orientieren, dass Selbstbestimmung und Respektierung der Anderen nicht als Widerspruch erscheint, und wie eine Orientierung an ästhetischen und politischen Traditionen möglich ist, ohne das Ideal einer rückhaltlosen Zeitgenossenschaft aufzugeben.

Ob das Hörbuch viele an den Roman heranführt, die ihn noch nie gelesen haben? Oder ob es denen, die den Roman kennen, eine neue, andere Zugangsweise zu dessen Inhalten, Formen und Anliegen ermöglicht? Fraglich bleibt dies angesichts einer übermächtigen Medienkonkurrenz. Der Rezensent hat ein paar Stunden der konzentrierten Ruhe und Besinnung mit dem Hörbuch verbracht, und er empfiehlt auch anderen nachdrücklich, zwischen Terminhetze und Videoclip eine neue Begegnung mit einem schwierigen Text zu wagen, dessen Gehalt, Bedeutung und Schönheit dank einer wirklich geglückten Arbeit einer begabten und engagierten Gruppe von Künstlern in einer neuen Dimension hervortreten.


Titelbild

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. 12 CDs.
Der Hörverlag, München 2007.
630 Min., 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783867170147

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