Ein Markstein der Literaturgeschichte

Peter Weiss' "Die Ermittlung" ist als Hörbuch und in einer kommentierten Neuausgabe neu zugänglich gemacht

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sein Lektor das Manuskript der "Ermittlung" das erste Mal gelesen hatte, schrieb er an Peter Weiss: "es hat mich ganz krank gemacht. [...] Es ist ein ungeheuerlicher Text, der mich bei der ersten Lektüre völlig erschlagen hatte, sodaß ich keinerlei Gedanken an die Aufführbarkeit, an das Theater etc., fassen konnte. Kein Gedanke über aesthetische Kategorien". Diesen Eindruck werden viele Leser, wenn nicht die meisten Leser nachvollziehen können. Im Spiegel der "Strafsache gegen Mulka und andere" (dem so genannten ersten Auschwitz-Prozess) wird die Dimension des nationalsozialistischen Systems der Vernichtungslager auf eine Weise reflektiert, die in der deutschen Literatur bisher noch kein gleichrangiges Gegenstück fand. "Die Ermittlung" gilt als "konsequentestes Stück Literatur über den Holocaust" überhaupt und behauptet sich, wie Alfons Söllner formulierte, als "erratischer, aus Sprache geformter Block der Erinnerung [...] gegenüber einem modischen Gedächtniskult."

Gut eine Woche nach der Aufsehen erregenden "Ring-Uraufführung" von 15 Bühnen in Ost (Rostock und Potsdam, sowie acht szenische Lesungen) und West (Berlin, Essen, Köln, München; szenische Lesung in London), denen in den folgenden Tagen noch weitere Inszenierungen folgten, wurde die von elf Rundfunkanstalten unter Federführung des Hessischen Rundfunks produzierte Hörspielfassung der "Ermittlung" am 27. Oktober 1965 erstmals ausgestrahlt. Wie noch bei jeder Aufführung der "Ermittlung" wurde der Text um etwa ein Drittel eingestrichen (Bearbeitung: Hermann Naber), jedoch ohne dass das Stück in seiner inhaltlichen Substanz angegriffen wurde. Insgesamt befanden sich die Streichungen eher in der zweiten Hälfte des Stücks, das dadurch dynamisiert wurde. Sie betrafen zum Beispiel bestimmte Wiederholungen, die allerdings zu Weiss' ästhetischer Absicht gehörten, wie er an den Verlag schrieb: das Stück nämlich überlang zu machen, "so mahlend in der immerwährenden Fragestellung", damit es "unerträglich" werde. "Der ganze Sinn liegt hier in dem Ausgedehnten, kein Ende Nehmenden." Außerdem wurden Beschreibungen der Örtlichkeiten sowie der grässlichsten Szenen, etwa im Gesang von der Schaukel oder in den Gesängen vom Phenol und vom Bunkerblock, gestrichen, ohne aber dass darin irgend eine politische Absicht erkennbar wäre. Ein bisschen entschärft ist die Hörspielfassung aber schon.

Akustisch ist das Stück außerordentlich reduziert. Lediglich zwischen den einzelnen Teilen der Gesänge gibt es ganz kurze Einblendungen von Geräuschkulissen aus dem Gerichtssaal (Stühlerücken, Stimmengewirr). Ansonsten vertraut die Inszenierung von Peter Schulze-Rohr auf das nackte Wort. Sogar die in Weiss' Text schon seltenen emotionalen Reaktionen (seitens der Zeugen und der Angeklagten) sind fast ganz zurückgenommen. Die Radioaufführung charakterisiere "eine Sachlichkeit und Nüchternheit, die das Grauen im Alltäglichen belässt, um es gerade dadurch in seinem Wesen zu kennzeichnen", stellte Gerd Fuchs in der "Welt" schon damals fest und fragte sich, ob diese Funkfassung sich möglicherweise "allen Bühnenversionen als überlegen erweisen sollte", und zwar gerade weil sie sich "allein auf das Wort stellt". Dadurch zeige sie, "was das Wort noch zu leisten imstande ist: Imagination wird nicht gefordert, sie wird erzwungen".

Anlässlich der Veröffentlichung der Hörbuch-Bearbeitung der "Ästhetik des Widerstands" zum 25. Todestag von Peter Weiss publizierte Der Hörverlag in München die 2001 schon einmal neu aufgelegte, erste aller Radiobearbeitungen nun wiederum auf CD. Anders als vor sechs Jahren wurde dieses Mal allerdings auf die originale Anmoderation aus dem Jahr 1965 verzichtet.

Das Booklet enthält einen Text des renommierten Peter Weiss-Forschers Jochen Vogt, der an die Bedeutung des ersten Auschwitzprozesses und des Theaterstücks darüber für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erinnert. "Im historischen Rückblick haben die vielfachen Aufführungen der ,Ermittlung' wie auch die anschließenden Debatten [...] eine zeit- und bewusstseinshistorische und damit eine gesellschaftspolitische Zäsur von größter Bedeutung gesetzt. Der Vorhang des Schweigens, der noch so dicht über den fünfziger Jahren gelegen hatte, war nun endgültig zerrissen."

Dazu wollte auch der damals als Hörspieldramaturg beim Hessischen Rundfunk beschäftigte Hermann Naber mit seiner Radiobearbeitung beitragen. In der "Frankfurter Rundschau" vom 2. Oktober 1965 hatte er die Gegenwartsbezogenheit des Stücks betont: "Die ,Ermittlung' gilt den Lehrern, den Richtern, den Ärzten, den Wirtschaftsführern, den Bahnbeamten, den Herstellern der Verbrennungsöfen, den Lieferanten des Zyklon B - denjenigen, die damals dem Regime dienstbar waren und heute behaupten, nicht gewusst zu haben, dass sie Mördern dienten, und das für sich als Entschuldigung anführen. Nicht der Vergangenheit, die man gern vergessen möchte, sondern der sich verschließenden Gegenwart gilt die ,Ermittlung'."

Die von dem Stück damals ausgelöste öffentliche Debatte verlief damals höchst kontrovers, doch war genau das ja das Ziel gewesen: Das Schweigen zu beenden und die Debatte über Verankerung des industriellen Massenmords in der deutschen Gesellschaft zu thematisieren, damit sich nicht verfestige, was in der "Ermittlung" der Angeklagte Mulka in seinem Schlusswort fordert: "Heute / da unsere Nation sich wieder / zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / als mit Vorwürfen / die längst als verjährt / angesehen werden müssten".

Die Hörspielbearbeitung enthält auch eine kurze Dokumentation zum ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main (20. Dezember 1963 bis 20. August 1965). Ausführlicher kann man sich über den Prozess und das Stück, seine Entstehung, seine Rezeptions- und Deutungsgeschichte in der ersten kommentierten Ausgabe informieren, die Marita Meyer in der Suhrkamp BasisBibliothek 2005 zum vierzigsten Bühnenjubiläum vorlegte. Vor allem kann man hier den gesamten Text nachlesen und dabei erleben, wie die künstlerische Bearbeitung des an sich spröden Materials eine Eindringlichkeit entfaltet, die weit über jede Dokumentation hinausgeht. In Meyers Edition wird das doppelte Anliegen der "Ermittlung" leicht fassbar: Nämlich sowohl Anamnese, also Arbeit an der Wieder-Erinnerung und Aufdeckung von verdrängtem Wissen, wie Mnemosyne, also gestaltende Erinnerung, zu sein.

Beides zusammen lässt die "Ermittlung" zu einem zentralen Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses werden, oder wie sich Jochen Vogt ausdrückte: zu einem "Grundstein im demokratischen Fundament der Bundesrepublik Deutschland, das uns hin und wieder allzu selbstverständlich erscheinen mag." Peter Weiss hält die Erinnerung an den düsteren Hintergrund, vor dem ein demokratisches Deutschland erschaffen werden musste, wach. Die kommentierte Neuausgabe wird außerdem ergänzt durch den wichtigen Text "Meine Ortschaft", den Peter Weiss 1964 über einen Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz schrieb und der zu Recht zu den Lesebuchklassikern der deutschen Nachkriegsliteratur gehört.


Titelbild

Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen.
Mit einem Kommentar von Marita Meyer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
300 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3518188658
ISBN-13: 9783518188651

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. 3 CD.
Der Hörverlag, München 2007.
179 min, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783867170239

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