Quantensprünge und Augenblicksemphasen

Das Fin de Siècle als interdisziplinäres Phänomen

Von Ralf HertelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Hertel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jenseits der gängigen Verfalls- und Untergangstopoi zeugt die Zeit um 1900 von einem oft vergessenen Reichtum: dem an vielsprachiger Internationalität. Das Fin de Siècle ist neben der Epoche der Dekadenz und des Verfalls eben auch jene der von Nietzsche proklamierten "Umwertung aller Werte": die Zeit, in welcher Grenzen - nicht zuletzt die der Nationalliteraturen - durchlässig werden. Was etwa wäre an Huysmans französischer als an Wilde, an diesem englischer als an Hofmannsthal? Kaum ein später als Nationaldichter deklarierter Autor verstand sich als solcher, und es ist kein Zufall, dass die größten unter ihnen zugleich oft die verständigsten Übersetzer waren oder mehrsprachig dichteten: Rilke, George, Wilde, Mallarmé. Zugleich aber ist es die Epoche, in der sich noch keine lingua franca durchgesetzt hat. Dies gilt auch für die Wissenschaften: Ein Sigmund Freud sieht sich noch nicht vor die Frage gestellt, ob er seine "Traumdeutung" etwa auf Englisch verfassen soll. So erscheint heute, vor dem Hintergrund der zunehmenden Dominanz des Englischen als Wissenschaftssprache und der angloamerikanischen Literatur auf den Verkaufsflächen der Buchhandlungen, die Jahrhundertwende als ein fruchtbares Nebeneinander polyphoner Stimmen.

Dementsprechend ist es nur konsequent, wenn sich die aus einer Göttinger Ringvorlesung hervorgegangene Anthologie "Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaft, Literatur und Kunst um 1900" dieser Epoche unter einem dezidiert internationalen Blickwinkel nähert. Das Nebeneinander jedoch ist nicht allein eines der Sprachen, es ist nicht minder eines von Kunst und Wissenschaft; selten zuvor war die gegenseitige Beeinflussung so deutlich zu spüren. Um beim populären Beispiel Freuds zu bleiben: Nicht zuletzt lieferten ihm literarische Texte aufschlussreiche Fallstudien für die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie; zugleich aber übten seine Überlegungen weit reichenden Einfluss auf die Schriftsteller der Generation aus, nicht zuletzt auf Thomas Manns "Tod in Venedig". So erscheint die doppelt komparatistische Perspektive des Sammelbandes mit der Betonung der Internationalität und der Interdisziplinarität der Jahrhundertwende durchaus überzeugend.

Umso weniger verständlich ist es, dass ausgerechnet die Bereiche Musik und Tanz übergangen werden, hätte sich doch gerade hier die zeitgenössische Tendenz zur Grenzüberschreitung besonders eindrücklich darstellen lassen: Hofmannsthals im Zusammenhang mit der vielzitierten Sprachkrise stehende Kooperation mit Richard Strauss, dessen Vertonung von Wildes "Salomé" oder auch Schoenbergs Übersetzung von Dehmels "Verklärter Nacht" in die Form der Tondichtung. Am Beispiel einer Literatur, der es, nach einem Wort Walter Paters, beständig angelegen ist, einen musikähnlichen Zustand zu erreichen, hätte sich das paradigmatische Streben der Zeitgenossen nach Interdisziplinarität besonders anschaulich machen lassen. Vielfältig auch wären die Möglichkeiten gewesen, anhand des neu entstehenden freien Tanzes die Verquickung der Künste mit den Wissenschaften vorzuführen: Loïe Fuller etwa, gefeierter Star der europäischen Avantgarde um 1900, hätte ohne die Entdeckung des Radiums kurz zuvor wohl kaum mit lichtmagischen Tänzen für Furore sorgen können.

Von diesem Versäumnis abgesehen bietet die Anthologie eine Vielzahl gut lesbarer Beiträge auch aus Bereichen, die sonst keinen Eingang in kulturwissenschaftliche Studien finden. So begegnet man neben Analysen kanonischer Werke wie Picassos "Les Demoiselles d'Avignon" (Carsten-Peter Warncke) auch Beiträgen zur "Entdeckung der Mikroorganismen als krankheitsauslösende[n] Umweltfaktoren" (Reiner Thomssen) oder zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 (Uwe Diederichsen). In Anbetracht der auf Mündlichkeit angelegten Konzeption der Ringvorlesung und der Vielzahl der untersuchten Bereiche können die einzelnen Beiträge natürlich selten mehr sein als Orientierungshilfen. Das stört jedoch nicht, denn der Leser gewinnt trotzdem: von Untersuchungen zu Bereichen, in denen er sich weniger bewandert fühlt. Ein Literaturwissenschaftler wird beispielsweise eher wenig von Theodor Wolpers Analyse der Augenblicksemphase bei Wilde, Conrad und Joyce profitieren, und auch Siegmar Döpps Analyse der Bedeutung spätrömischer Literatur im Zeitalter der Dekadenz bringt wenig Neues: Dass "die spätrömische Literatur im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert paradigmatische Bedeutung gewinnt", die Zeit jedoch "für ein Gesamtbild der Rezeption dieser Literatur durch das Fin de Siècle [...] noch nicht reif" sei, ist als Fazit doch etwas dürftig. Dagegen werden ihm Beiträge wie "Ernst Haeckel oder die theologische Versuchung eines Naturforschers" (Norbert Elsner) und "Quanten und Unbestimmtheit" (Manfred Schroeder) durchaus neue Horizonte eröffnen, indem er feststellt, dass das Gefühl eines Epochenumbruchs und der damit einhergehenden Ungewissheit selbst vor den Naturwissenschaften nicht halt machte. So mag es schließlich nicht zuletzt Verdienst der Anthologie sein, dass sie denjenigen, der sich wissenschaftlich mit einer elementar internationalen und interdisziplinären Epoche auseinander setzen will, zu einem grenzüberschreitenden Studium anhält.

Titelbild

Ulrich Mölk: Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaft, Literatur und Kunst um 1900.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
368 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3892443718

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