Klassenbewusstsein und Klassenfeinde

Edward St Aubyns Roman "Schöne Verhältnisse" ist eine bitterböse Abrechnung mit der britischen Oberschicht

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über den "Umweg" einer Prostituierten stammt David Melrose von Charles II. ab und dieser Adel verpflichtet - Prostituierte hin, Klassenbewusstsein her. Aber als er dann seinem Vater, General Melrose, verkündet, dass er Arzt werden will, liegt dieser Wunsch für den alten Herrn doch entschieden zu weit jenseits seiner von Schichtendenken und -zugehörigkeit dominierten Vorstellungswelt. So streicht er dem Sohn die Leibrente, um sie stattdessen für die Aufzucht von Fasanen zu benutzen: "Auf Menschen und Tiere zu schießen, war der Zeitvertreib eines Gentlemans; deren Wunden zu versorgen, jedoch die Aufgabe von Quacksalbern aus der Mittelschicht."

David Melrose wird trotzdem Arzt und spielt weiterhin in der Liga der Reichen, weil Blut eben doch dicker ist als Wasser und man ja auch eine reiche, geborene Duchesse de Valençay heiraten kann - überhaupt: was hätte sonst aus dem Familienstammbaum werden sollen? Kaum mehr allerdings als diese wenigen Andeutungen von Verletzungen und unterkühlten Behandlungen durch den Vater erfährt der Leser über die Jugend- und frühen Mannesjahre des Protagonisten. Viele Hinweise deuten allerdings darauf hin, dass sich diese ältere Vater-Sohn-Geschichte in der Beziehung David Melroses zu seinem Sohn Patrick wiederholt. Und um die geht es in diesem Roman, der schon 1992 mit dem englischen Originaltitel "Never mind" erschienen ist - ein Titel, der freilich viel treffender die zynisch-makabre Erzählhaltung unterstreicht.

Schauplatz dieser bitterbösen und doch gleichzeitig ungeheuer komischen 'Milieustudie' ist das mondäne Familienanwesen der Melroses in Südfrankreich, und berichtet wird von einem einzigen Tag, der in seiner Eintönigkeit aus kleinen Gartenarbeiten - den Arztberuf hat David nach der Hochzeit mit Eleanor aufgegeben -, Anweisungen an das Dienstpersonal und der Ausrichtung eines Abendessens für zwei befreundete Paare dennoch exemplarisch für alle Tage stehen kann.

Überdies bietet das sonnige Südfrankreich nicht nur das richtige gesellschaftliche Umfeld, sondern auch optimale (Wetter-)Bedingungen für die letztlich vom Leben angewiderten Melroses. Hinter einer schwarzen Sonnenbrille und zentimeterdicken Puderschicht verbirgt Eleanor Melrose schon früh am Morgen ihr von Trunksucht gezeichnetes Gesicht, dessen wahres Antlitz sie wahrscheinlich selbst nicht mehr kennt. "Vielleicht war es im Gegenteil gerade ihr Geld, das ihn verdorben hatte. Anfänglich hatten sie noch davon gesprochen, einen Teil ihres Geldes zur Gründung eines Heimes für Alkoholiker zu verwenden. In gewisser Weise war ihnen das auch gelungen."

Solche Schilderungen von in höchstem Maße deprimierenden und erschütternden Zuständen - von denen man am liebsten noch zehn andere zitieren möchte - gerät mit ihrem zynisch-sarkastischen Tonfall nicht nur überaus komisch und unterhaltsam, sondern verrät auch gleichzeitig, welches literarhistorische Erbe hier, sowohl was die Thematik als auch die Gestaltung anbelangt, angetreten wird. Den trockenen Wortwitz und die böse Ironie eines Oscar Wilde beherrscht St Aubyn ebenso meisterhaft wie die mikroskopische Scharfstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie wir sie in den Romanen von Evelyn Waugh finden.

Allerdings steigert sich die aus der finanziellen Unabhängigkeit und sozialen Stellung resultierende völlige Ignoranz, ja Verachtung jeglicher bürgerlicher Werte- und Moralvorstellungen bei David Melrose zu einem perfiden Gefühl von Überlegenheit der Amoralität, unter dem vor allem der Sohn Patrick zu leiden haben wird. Denn natürlich ist der Titel des Romans ironisch zu verstehen. Diese Verhältnisse sind alles andere als schön. Ihren Höhepunkt, besser gesagt: ihren Abgrund erreichen die katastrophalen Familienverhältnisse, als der Vater am Vormittag Patrick wegen einer Nichtigkeit bestraft und ihn sexuell missbraucht.

Dass Melrose hier mit seinen eigenwilligen Erziehungsmethoden zu weit gegangen sein könnte, beschäftigt ihn nicht wegen etwaiger Schuldgefühle gegenüber dem Jungen, sondern nur insofern, als er fürchtet, aus dieser 'anti-bürgerlichen' Aktion keinen gesellschaftlichen Nutzen ziehen und seine Club-Kollegen unterhalten zu können: "Beim Mittagessen hatte David das Gefühl, dass er es mit seiner Verachtung für die Prüderie der Mittelschicht vielleicht ein wenig zu weit getrieben hatte. Nicht einmal an der Bar des Cavalry ans Guards Club konnte man mit homosexuellem, inzestuösem Kindesmissbrauch prahlen und auf ein geneigtes Publikum hoffen."

St Aubyn hat mit David Melrose eine literarische Figur geschaffen, die einem beim Lesen nur allzu deutlich vor Augen tritt und - man wagt es kaum zu sagen - ebenso anziehend wie abstoßend, gewissenlos und charmant, eiskalt und freundlich erscheint. Vor allem aber zeigt sich in ihm die Fatalität einer überlebten, übertrieben klassenbewußten Gesellschaftsschicht, in der die Kinder von einst als Väter dieselben Maximen predigen, die sie zuvor an ihren eigenen Vätern kritisiert haben und was sich vor dem Hintergrund tagespolitischer Diskussionen um Krippenplätze und Berufschancen durch Spitzenbildung erstaunlich aktuell anhört: "Vielleicht bin ich furchtbar reaktionär, aber ich finde, man muss nicht mehr für ein Kind tun als ein gutes Kindermädchen anzustellen und es zur rechten Zeit nach Eton zu schicken."

Parallel zu den Vorkommnissen im Hause Melrose werden in einzelnen Kapiteln die ebenfalls nicht allzu schönen Liebes-Verhältnisse der beiden anderen Paare, die bei den Melroses zum Abendessen eingeladen sind, vorgestellt. Da ist zum einen der reiche und schöne Nicholas, der seine Clubmitgliedschaft David zu verdanken hat und seine über zwanzig Jahre jüngere Freundin Bridget aber schon lange schlichtweg ordinär findet ("Er spürte ein vertrautes Sehnen nach einer gebildeten Frau Anfang dreißig, die in Oxford Geschichte studiert hatte; dass er sich bereits von zwei solchen Frauen hatte scheiden lassen, tat seiner unmittelbaren Begeisterung keinen Abbruch").

Oder der zum Sir geadelte Philosoph Victor Eisen, der "früher bei seinen Eroberungen utilitaristisch" vorgegangen ist, und seine Geliebte Anne Moore, die aus amerikanischer Sicht während des Abendessens immer wieder Bedenken gegenüber bestimmten Gepflogenheiten der feinen britischen Gesellschaft anmeldet. Aber ähnlich wie Eleanor ("Eleanor fand es immer noch unerklärlich, dass zum besten englischen Ton so viele Unverschämtheiten und gehässig gekreuzte Klingen gehörten") bleibt ihre Frage, warum man denn den Abend mit Menschen verbringe, die man den ganzen Tag beleidigt und über die man gelästert habe, zwar nicht unbeantwortet ("Damit man am nächsten Tag Stoff für neue Beleidigungen hat"), an dem Verhalten dieser noblen Herren ändert das indessen nichts. Auch in Zukunft wird nichts den aristokratischen David Melrose daran hindern, nach der Maxime: "Warum den Degen ziehen, wenn es auch der Knüppel tut" zu handeln.


Titelbild

Edward St Aubyn: Schöne Verhältnisse.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
DuMont Buchverlag, Köln 2007.
188 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783832180126

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