Hamlet / Artaud

Zur "Gesamtausgabe" Rainer Maria Gerhardts

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Schriftsteller, die in der Öffentlichkeit stehen; es gibt Schriftsteller, die zurückgezogen leben; und es gibt Schriftsteller, die als Gerücht umher geistern und als Legende. Einer dieser raren Letzteren ist der 1927 geborene Rainer Maria Gerhardt, der sich bei mir und erst vor kurzem in Gestalt zweier kleiner und feiner Bändchen einstellte: den beiden Gedichtbänden "Hamlet" und "Umkreisung", ausgesprochen schön ediert in der Typografie des Erstdruckes, erschienen in der Edition Rauschenbach.

Dazu einiges Geraune: Dass Gerhardt nur wenige, aber bedeutende Gedichte geschrieben habe, dass er mit Gottfried Benn bekannt geworden und in Zwist geraten sei und dass er eine kleine, aber erstaunliche Zeitschrift namens "fragmente" herausgegeben habe, von der allerdings nur zwei Ausgaben erschienen seien und die kein Antiquariat je preisgebe; dass er als erster und mit seiner Frau Ezra Pound, Saint-John Perse, Henri Michaux übersetzt und lange vor Hubert Fichte und Rolf-Dieter Brinkmann bereits amerikanische Gegenwartsliteratur entdeckt und publiziert habe: Robert Creeley und Charles Olson; dass er einen Verlag gegründet habe, dessen Ambitionen in eben dem Maße wuchsen, wie die Versuche, das fantastische Programm zu realisieren, den Verleger ruinieren mussten; dass Gerhardt mit 27 Jahren bereits den Freitod gewählt habe; und dass das im Jahre 1954 geschehen sei.

Kurzes Leben, schnelles Erlöschen, sperriger Charakter, nonkonformistisches Denken, ein ungewöhnlich sensibles literarisches Frühleitsystem und ein eigener, dunkel lyrischer Ton: Legendenstoff reichlich. Georg Büchner, Arthur Rimbaud, Georg Heym fallen ein. Dazu der Vorname von Rilke und der Nachname eines lutherischen Theologen aus dem 17. Jahrhundert. Welche Mischung.

"Umkreisung" heißt der Band, der unter dem nicht ganz einleuchtenden Untertitel "Das Gesamtwerk" nun die wichtigsten Texte nicht nur von, sondern auch über und um Rainer Maria Gerhardt gesammelt, mit den beiden "fragmente"-Heften in Faksimile zusätzlich ausgestattet und so schön ediert hat, dass man mit Lichtenberg sagen möchte: "Wer zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld und kaufe sich dieses Buch!"

Das Konzept der Ausgabe ist überaus klug, weil es - statt nur zu sammeln oder chronologisch zu schichten - die Dichtungen, Essays und Materialien nach den entscheidenden Gerhardt'schen Arbeitsfeldern geordnet hat. Zunächst werden die beiden zu Lebzeiten publizierten Gedichtzyklen geboten, wenngleich der "Offene Brief an Creeley und Olsen" aus der "Umkreisung" leider in ein anderes Kapitel ausgelagert und damit die konzeptuelle Anlage des Gedichtbandes empfindlich gestört worden ist. Dann folgen die programmatischen Essays, anschließend eine Dokumentation der bedeutend-projektierenden Leistung des jungen Verlegers, weiter der in Briefen und Gedichten gleichermaßen verlaufende und aufregende "Transatlantische Dialog" zwischen Gerhardt und seinen beiden amerikanischen Schriftstellerkollegen, gefolgt von zumeist persönlichen Episteln, um zu der bitteren Auseinandersetzung in Sachen Pound-Übersetzung zwischen dem Benn-Verleger Max Niedermayer, Hans Paeschke vom Merkur, Gottfried Benn und Gerhardt überzugehen. Am Schluss dann eine Stimmensammlung ad Gerhardt von Ernst Robert Curtius bis zu Anfrid Astel und Arno Schmidt. Mehr kann man nicht wollen.

Lücken in der Literaturgeschichte fallen erst dann unangenehm auf, wenn sie spürbar werden. Diese Spürbarkeit der Lücke, von der bis dato kaum einer wusste, dass sie überhaupt existierte, wird hier bestens erregt. Wie nachhaltig verändert sich von der "Umkreisung" aus der Blick auf die Nachkriegsliteratur mit der Spinne 47 als Wächterin über das literarische Netz. Wie restringiert wirkt von Gerhardts Entdeckerverve und Übersetzungsgespür her die Beschwörung von Trümmerliteratur und Kahlschlag; wie hausbacken tönt die Maxime, man wolle bei Null und Nichtig beginnen und à la Hemmingway neben den "fragmente"-Exempeln Pound, T.S. Eliot, Henry Miller, William Carlos Williams, Rafael Alberti, Antonin Artaud... Und wie unangenehm die Kulturverwalter-Attitüde von Benn und Niedermayer, die an einem Studenten ihren kleinen Mut kühlten, statt dessen erfrischend pubertäre Geste zu würdigen, die es da zu bestaunen gab. Denn was der Herausgeber Uwe Pörksen an Beispielen einsichtig demonstriert: Wer wirklich eine Ahnung von Ezra Pounds ruppiger, mythengetränkter, sinophiler und doch so sprengkräftig gegenwärtiger Lyrik und ästhetischer Schubkraft haben wollte, der war bei den vielleicht nicht immer stil- und stubenreinen Gerhardts weit besser aufgehoben als bei den doch bieder-blümeranten Nierentisch-Übersetzungen von Eva Hesse oder gar von Hans Hennecke, den sich Gottfried Benn ins Haus bestellte.

Gerhardt also hätte ein Stachel im Fleisch der Nachkriegsliteratur sein können, wenn er so ernst genommen worden wäre, wie er es verdient gehabt hätte. Und wenn der Stachel nicht zugleich der im eigenen Fleisch gewesen wäre. Liest man nämlich Gerhardts Gedichte, Essays und Briefe, so stellt sich zunächst eine gewisse Ernüchterung ein. Neben außerordentlichen Versen und Reflexionen findet sich Unbeholfenes, Bemühtes; manches ist zu universitär und zugleich zu ungenau, halbgar und wirkt wie noch nicht ganz entpuppt. Bisweilen ist der Wunsch zu spüren, im literarischen Diskurs selber eine Stimme zu haben, mitzusprechen und dazuzugehören. Gerhardt schreibt - bei aller Anrufung von echter Moderne, Fülle der Sprache und wahrem Vers - oft wie verstellt. Das hat es seinen Kritikern leicht gemacht - zu Unrecht. Der Befund, wenn er denn stimmte, sollte nämlich nicht kritisiert, sondern reflektiert werden.

Denn "wie verstellt" meint hier zweierlei. Zum einen, dass Gerhardt viel stärker, als ihm vielleicht bewusst war, das, was er schrieb, gewissermaßen verschob. Er imitierte, besser vielleicht noch: kreuzte Stile. Zunächst Rilke und Stefan George, dann Rilke, Georg Trakl und Pound und schließlich Rilke, Trakl, Pound, Olson und Creeley. Über dem Untergrund eines abendländischen Pathos fluktuieren spürbar unterschiedliche Schreibweisen - eine Melange aus Modernitätsanspruch und imitativer Praxis, die überaus erregend ist und bereits vorwegzunehmen scheint, was erst nach der Moderne kommen sollte. Peter Härtlings erstaunliche und paradoxe Einsicht: "Er ahmte das Zukünftige nach", trifft diesen Umstand exakt.

Zum anderen meint "wie verstellt": dass die Sprache bei Gerhardt oft wie blockiert erscheint. Immer wieder wird das sorgfältig geknüpfte Gewebe zerrissen von der Schwere und Schwermut der Rhythmen, vom langen Vers und einer gewissen Lust am Verfall - und von sprachlichen Leerstellen oder banalen Bildern, die die intendiert hohe Stillage nicht zu halten vermögen. Absolute Dichtung, wie propagiert, ist das bestimmt nicht.

Genau darin liegt aber bei Gerhardt nicht der Reiz, sondern die Reizung. In der Verstelltheit, in dem Hybriden, Verrutschten, zu Forcierten scheint eine Art existenzielle Blockade durch, die das rechte Wort am rechten Fleck vereitelt und den Trug der sauberen Dichtung nachhaltig beschmutzt. "Hamlet" heisst Gerhardts erste Gedichtsammlung nicht zufällig: Selbstverhinderung und Selbstzweifel sind im Verbund mit Maske und Simulation. Und nicht zufällig erscheint ebenfalls, dass neben den Pounds und Eliots in Gerhardts Übersetzungsarealen Antonin Artaud auftauchte und noch 1954 der Verleger den Artaud-Band "Um mit der Gerechtigkeit Gottes Schluß zu machen" ankündigte.

Denn mit Artaud betritt der Exponent einer Poetik der Verstellung das Spielfeld. Verstellung aber heißt für Artaud nicht persönliche poetische Unzulänglichkeit, sondern eine fundamentale gesellschaftliche, familiäre, körperliche und sprachlich-logische Subjekt-Entwendung, die das gelungene Wort, den gelungenen Vers, das gelungene Gedicht vorab blockiert. Eine Entwendung, die bis an die Grenze des Erträglichen führt. Auch Rainer Maria Gerhardt, so scheint es, hat diese Artaud'sche Entwendung erlitten - und die Grenze früh, leider viel zu früh übertreten. Tiefe Verbeugung vor dem spätposthumen Gedenkstein der Editoren.


Titelbild

Rainer Maria Gerhardt: Umkreisung. Das Gesamtwerk.
Herausgegeben von Uwe Pörksen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
544 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301238

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