Vieler Menschen Länder und Sitten

Maurizio Maggianis Roman "Reisende in der Nacht" entführt den Leser in fremde Regionen und zu den Anfängen des Erzählens

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel lässt sofort an Italo Calvinos Klassiker "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" denken. Und in der Tat: wenn auch die beiden Autoren sonst eher wenig miteinander zu tun haben und das mit dem Titel nur ein Zufall oder eine überzogene Assoziation des Rezensenten sein mag, eines verbindet die beiden doch: sie verlangen dem Leser viel ab und - rechnen mit ihm.

Hat Calvino seinerzeit durch ein intelligentes Verwirr- und Versteckspiel gemeinsam mit dem Leser die Frage nach dem Status von Büchern, der Rolle der an der Textproduktion und -rezeption beteiligten Instanzen und damit gleichsam das Lesen an sich erkundet, so führt die Vielstimmigkeit und das geschickte Verwischen der Grenze zwischen Autor und Erzähler in Maurizio Maggianis neuem Roman "Reisende in der Nacht" ("Il viaggiatore notturno") zum Urthema aller Literatur zurück: dem Erzählen.

Denn die hier von einem Ich-Erzähler wiedergegebenen Erinnerungen an Bürgerkriegs-Erlebnisse im ehemaligen Jugoslawien zeichnen sich nicht nur durch eine unbändige Wortverliebtheit und fast magische, alle Bereiche der sinnlich wahrnehmbaren Welt erfassende Sprache und Fabulierlust aus. In die Reflexionen mischen sich auch Erzählungen von Erzählungen und das Wiedergeben von Gehörtem, aus dem sich ein sowohl geografisch als auch zeitlich komplexer Erzählkosmos formiert.

Die Ausgangssituation für diese Geschichten ist eine Nacht, in der ein Genueser Vogelforscher, von dem wir später den Namen Alaghj erfahren, auf einem Hügel des Assekrem, einem Berg des Ahaggar-Gebirges nahe der Stadt Tamanrasset in Algerien, sitzt und sich die Gespräche mit seinem Begleiter Jibril abwechseln mit dem Nachdenken über die "Schlichtheit Gottes, über die Schlichtheit der Menschen und über die Schlichtheit dieser unendlichen Wüste". Das vom Erzähler immer wieder eingesetzte "Hör zu" gilt nicht nur seinem Gesprächspartner Jibril und dem Leser, sondern weist auch auf eine Erzählsituation hin, mit der die Mündlichkeit als Anfang aller Geschichten und der Geschichte thematisiert wird. Vor dem Hintergrund einer fremdartigen und gleichsam anziehenden Region und Kultur wird eine quasi vormoderne aber ursprüngliche Kommunikation vorgeführt, in der noch das gesprochene Wort, der gedachte Gedanke und die persönliche Begegnung eine Rolle spielen.

Doch der Ort, von dem diese beobachtungs- und assoziationsreichen Gedankengänge ihren Impuls empfangen ist kein beliebiger Ort in der Wüste. Es ist das Grab des französischen Offiziers, Priesters und Sprachforschers Charles de Foucauld, der nach dem Abbruch seiner militärischen Karriere zunächst dem Trappistenorden beitrat und später im Innern der Sahara bei verschiedenen Tuareg-Stämmen lebte, bis er 1916 in den Wirren des Ersten Weltkrieges in Nordafrika als französischer Agent verschleppt und erschossen wurde.

Die in atmosphärisch dicht geschriebenen Sätzen evozierte Archaik einer Wüstenlandschaft und ihrer Bewohner bildet auch fast ein Jahrhundert später für den Ich-Erzähler den Resonanzboden, auf dem spirituelle und religiöse Fragen zum Klingen gebracht werden, die schon jenen Verfasser des heute noch maßgeblichen Wörterbuches Tuareg-Französisch beschäftigten. Daneben verbindet die beiden freilich die Erfahrung des Krieges, genauer gesagt zweier Kriege auf europäischem Boden - der Erste Weltkrieg und der Krieg auf dem Balkan - am Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts, die eine zeitliche Klammer des Grauens und Schreckens bilden.

Was in jüngster Vergangenheit noch im Herzen Europas - nicht an dessen Rand! - an menschenverachtenden und -vernichtenden Pogromen und Gemetzeln möglich war, wird vor allem in der ergreifenden Beschreibung der Belagerung von Tuzla deutlich, ohne dass dabei der moralisierende Zeigefinger der politischen Kampfschrift erhoben würde. Auch hier bleibt Maggianis Erzählstil einer nicht anklagenden, sondern vielleicht vom eigenen Gegenstand erschütterten Lakonik erfüllt, die sich ebenso durch jene Passagen zieht, in denen der Krieg nicht als Großereignis geschildert, sondern der einzelne im Auge dieses Sturms betrachtet wird: "Wie viel ist das Leben eines Targi wert, Jibril? Sein Blut ist immer etwas wert für jeden, der es vergießt. Mitten in meinem Kontinent gibt es Straßen, wo Blut nichts kostet." Das gilt auch für den Krieg in Tschetschenien und das Massaker an den Armeniern 1919, über die ein Freund des Erzählers, Zindschirian, berichtet, was ersterer wiederum in jener Nacht auf dem Assekrem Jibril nacherzählt.

Hinter all dem steht die Sehnsucht nach einem tieferen Verständnis nicht nur der eigenen Lebens-, sondern auch der Weltgeschichte. "Ich weiß, dass die Dinge geschehen, damit man ihren Sinn erfasst. Ihn zu erfassen, so wie man einen Stein unter zahllosen Steinen der Wüste wegen seiner unwiderstehlichen Einzigartigkeit erfasst. Das möchte ich: den Sinn der Dinge spüren, die ich gesehen habe. Dann sagen, ich habe sie erlebt. 'Nicht alles, was existiert, ist auch wirklich', schrieb Père Foucauld über den geheimnisvollen Reisenden in der Wüste. Aber ich glaube auch, dass nur das existiert, was bleibt. Vielleicht auch nur der Geruch in meinen Händen, die Erinnerung auf meinen Fingerkuppen. Und ich möchte erfüllt von dem leben, was ich berührt habe. Auch hier, auf diesem Grabhügel sitzend, leben, in eine grobe, stinkende Militärdecke gehüllt."

Mit dem Kontrast zwischen solch poetischen Erkundungen des eigenen Ichs, die sich oftmals mit Betrachtungen von Naturschönheit verbinden, und der Beschreibung von Kriegsgräueln greift Maggiani im Medium des Romans implizit die Theodizee-Frage für die Moderne wieder auf.

So wie Maggiani in seinem 2001 auf Deutsch erschienenen Roman "Königin ohne Schmuck" auf die Folie einer Liebesgeschichte die Geschichte seiner Wahlheimat Genuas im 20. Jahrhundert projizierte, so gelingt es ihm in diesem mit dem "Premio Strega", dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, ausgezeichneten Roman einen panoramatischen Rückblick auf eines der kriegerischsten Jahrhunderte der Weltgeschichte zu werfen und dabei zugleich in überzeugender Weise an die virtuose Erzähltechnik etwa seines Erzählungsbandes "Die Liebe ist ein Schwindel" (2004) anzuknüpfen.

Nicht nur vor dem Hintergrund der Osterweiterung der Europäischen Union, sondern auch aufgrund der kultur- und religionsgeschichtlichen Bedeutung und Eigenheiten Südosteuropas, liest man diesen Roman mit großem Interesse. Denn neben den Kriegsschauplätzen lenkt Maggiani in Neben- und Seitenschauplätzen den Blick auch auf die Geschichte etwa der Bogomilen, die nach ihrer Vertreibung aus Bulgarien im 12. Jahrhundert donauaufwärts nach Dalmatien, Albanien und Bosnien flüchteten, um dort weiter nach ihrem dualistischen Weltbild, mit Christus und Satan als zwei Söhne eines Gottes, leben zu können.

Am Ende dieses Reigens aus erfundenen und wahren Geschichten, einer nächtlichen Reise von Nordafrika bis in die hinteren Regionen des Kaukasus und nachdem man vieler Menschen Länder und Sitte kennengelernt hat, kommt einem jene Stelle aus einem der Anfangskapitel ins Gedächtnis, wo der Erzähler sich über die Geschichten seines Begleiters Rudi äußert. Man fühlt sich an die eigene Lektüre erinnert: "Seine Erzählungen waren für einen, der von auswärts kam, meist unverständliche Prophezeiungen; sie erklärten nichts, waren aber in der Stille schön anzuhören."

Erklärungen für das Morden, den Krieg, die Schönheit der Welt und die Vergessenheit vieler Völker und Geschichten findet der Leser in diesem Roman nicht - nur jene Stille, die der Beginn jeder Geschichte und der Literatur ist, in die hinein dann etwas gesprochen wird.


Titelbild

Maurizio Maggiani: Reisende in der Nacht.
Übersetzt aus dem Italienischen von Andreas Löhrer.
Edition Nautilus, Hamburg 2007.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015343

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